Antisemitismus in Deutschland?
3.028 antisemitische Angriffe wurden 2021 im gesamten Bundesgebiet registriert. Das bedeutete einen Zuwachs um etwa 30 Prozent zum Vorjahr, das mit insgesamt 2.351 Angriffen schon einen „Höchststand der vergangenen zwei Jahrzehnte“ verzeichnete (Quelle: https://www.land.nrw/nrw-informieren/2021-bundesweit-mehr-als-3000-antisemitische-straftaten-registriert). Der Antisemitismus lebt wieder in Deutschland. Die Fakten sprechen für sich. Der Theater- und Musikverein NRW e.V. nimmt sich mit der Produktion „An allem sind die Juden schuld – Heute anders als vor 100 Jahren?“ diesem Thema an und verteilt dabei, höchst unterhaltsam, Backpfeifen in alle Richtungen. Nur eine weitergehende Differenzierung wäre schön gewesen.
Die rund eineinhalb Stunden erinnern dabei stark an einen Barabend, der fast alle künstlerischen Stilrichtungen durchläuft. Mal im Solo, mal gemeinsam performen Sophie Brüss (ebenfalls Regisseurin), Gerrit Pleuger, Christian Zell und Axel Weggen als musikalische Leitung auf hohem Niveau eine Hommage an die Werke jüdischer Künstlerinnen und Künstler. Rezitationen von Lyrik, Texten und Chansons – von Werken Rose Ausländers, Erich Mühsams oder Mascha Kalékos – erinnern nicht nur an das großartige Schaffen jüdischer Kunstschaffender, sondern auch an das Erleben antisemitischer Erfahrungen, die in den Texten immer auf ihre eigene Art und Weise verarbeitet werden.
Wo kämen wir da hin?
Schon der Beginn der Inszenierung gibt indes den Ton der Inszenierung an – in einem zutiefst banalem als auch berührendem Maße. Mit einer To-Do- bzw. einer Not-To-Do-Liste im Umgang mit jüdischen Personen zu starten, beweist einerseits Mut, andererseits wird so schon in den ersten Minuten jene aufklärerische Notwendigkeit schmerzhaft deutlich. Wie spricht man einen Juden/eine Jüdin an? Startet man eine Konversation direkt mit einem Hinweis auf den Palästina-Konflikt? Oder lässt man solche Diskussionen lieber außen vor?
Fortan spielt die Inszenierung über die gesamte Länge mit Vorurteilen und Gedankenflüchen, die nur schwer abzulegen sind und die dazu beitragen, dass marginalisierte Gruppen weiterhin marginalisierte Gruppen bleiben. Zwar höchst unterhaltsam und witzig, allerdings auch sehr ernsthaft, respektvoll und mit dem nötigen Biss.
Und diese Bisse hinterlassen folgerichtig ihre Spuren. In Erinnerung bleibt vor allem Christian Zells kraftvolle Interpretation von David Greenfields Rede im New York Council 2015. Greenfield, Enkelsohn von Holocaust-Überlebenden, legte dort eine spontane und bewegende Rede aufs Parkett, ausgelöst von antisemitischen Zwischenrufen und Protestschildern am 70-jährigen Gedenktag der Auschwitz-Befreiung. Die in jener Rede mitschwingende Wut sowie den Schmerz Greenfields transportiert Zell mit solch einem Elan, dass einem als Zuschauer glatt ein Frosch im Halse stecken bleibt.
Wir doch nicht, mit unserer Vergangenheit.
Und auch die übrigen Performances schließen sich dieser Vorstellung an, das gefühlvolle Klavierspiel von Axel Weggen sowie ein akzentuierter Lichteinsatz runden das Gesamtbild ab. Eindrucksvoll gibt das Ensemble über die gesamte Dauer Einblick in das Leben jüdischer Personen, die fortlaufend antisemitische Kämpfe führen müssen. Es ist ein Einblick in eine Welt der Niedertracht und eine Präsentation menschlichen Versagens, geführt von Unwissenheit und Abgrenzungsgelüsten von Menschen, die eigene Verfehlungen auf andere Gruppen übertragen, statt sie zu akzeptieren und an ihnen zu arbeiten.
Eines macht sich die Inszenierung bei aller Wucht dennoch zu einfach: Die Gleichsetzung antisemitischen Handelns mit der Kritik am Staate Israels. Denn nicht alle, die Kritik gegenüber der israelischen Politik äußern, sind gleich antisemitisch – auch wenn dieser Satz selbst einer weiteren Differenzierung bedarf. Aber Kritik an Staaten, sei es Deutschland, die USA, Russland oder Israel, muss grundsätzlich gestattet sein, ohne im selben Atemzug gebrandmarkt zu werden. Letztlich kommt es auf die Art der Kritik an. Hier hätte der Inszenierung eine tiefergehende Differenzierung gutgetan.
Tja…
In diesem Zusammenhang ist allerdings auch zu erwähnen, dass „An allem sind die Juden schuld – Heute anders als vor 100 Jahren?“ durchaus den Blick auf die Ursachen platter und von Unwissenheit getriebener Israelkritik hervorhebt. Berichterstattungen, die Fakten verdrehen und sensationsgetriebene Reportagen veröffentlichen, tragen daran ebenso eine Mitschuld wie die Komplexität des Themas an sich, dessen Fülle nicht mal eben an der Youtube-Universität oder durch das Lesen einzelner Artikel verstanden werden kann. Hier wiederum darf man sich gerne mehr Differenzierung bei Menschen wünschen, die Israel immerzu als bösen Schurkenstatt hinstellen.
Insgesamt schafft die Inszenierung also vor allem eines: Sie gibt einen Querschnitt vom Leben in Deutschland lebender Juden wieder, das vielerorts von antisemitischen Anfeindungen geprägt ist. Immer noch. Der alleinige Wunsch, dass es keinen Antisemitismus mehr geben darf, macht diesen Fakt leider nicht wett. Es gibt eine Menge zu tun. „An allem sind die Juden schuld – Heute anders als vor 100 Jahren?“ ist halt eine Produktion, die nicht mehr und nicht weniger erzählen will.
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Zusatzinfo: Die Produktion hat bereits eine lange Geschichte. Erstmals aufgeführt 2014, kam „An allem sind die Juden schuld – Heute anders als vor 100 Jahren?“ dieses Mal im Rahmen des Festjahres 321 – 2021 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – ans Horizont Theater. Brüss, Pleuger und Weggen arbeitet schon seit 2014 zusammen, Zell stoß erst 2021 dazu. „Für mich war das eine sehr große Umstellung“, sagt er. „Das Thema ist sehr sensibel. Was ich dabei gelernt habe? Unter anderem, dass alte Bilder über jüdische Personen, die früher funktioniert haben und heutzutage immer noch genutzt werden, überarbeitet gehören. Einen Marc Zuckerberg als Hai darzustellen wird vielleicht seiner Funktion als Facebook-Chef gerecht. Dass aber genau dieses Bild damals schon als Visualisierung von Juden genutzt wurde, lässt Zweifel an solch einer Karikatur aufkommen.“
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Fotos: Michael Godabreli – Szene aus einer älteren Vorführung der Produktion.
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Zeiten:
3. April 2022:
19:00 Uhr
24. April 2022:
19:00 Uhr
Preise:
Eintritt: 17,00 €
Ermäßigt: 12,00 €*
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Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung:
Horizont Theater
Adresse: Thürmchenswall 25, 50668 Köln
Kartentelefon:
0221 – 13 16 04
Webseite: https://www.horizont-theater.de/produktionen/anallemsind.htm
KVB: Linien 12, 15, 16, 18: Ebertplatz