Keine Geschichte über Zivilcourage
22. März 2022. Morgens halb zehn am Ebertplatz. Ich unterlaufe die Unterführung Richtung Theodor-Heuss Weiher, den Brunnenplatz im Rücken, eine Fritz Cola-Flasche in der einen, eine selbstgedrehte Zigarette in der anderen Hand. Linkerhand kommt mir eine Frau entgegen, deren Weg immerzu von einem Fahrradfahrer abgeschnitten wird. Genervt umkurvt sie das rollende Hindernis. Einmal. Zweimal. In ihrem Gesicht lässt es sich ablesen: Sie ist genervt und ängstlich, versucht der Situation zu entkommen. Der Fahrradfahrer aber lässt nicht locker, ein schelmisches und zugleich gieriges Grinsen zieht sich über sein Gesicht, immer wieder setzt er ihr nach. Irgendwas läuft hier gerade derbe falsch, denke ich mir und als sich mein Mund fast automatisch öffnet, schlägt mir das Herz bis zum Hals.
Ob alles okay sei, frage ich sie, doch ich glaube, sie hat mich nicht einmal verstanden. Schnellen Schrittes passiert sie mich und läuft eilig davon. Der Fahrradfahrer hingegen hat meine Frage durchaus verstanden. Breitbeinig bringt er sein Fahrrad zum Stillstand und brüllt mir – wie jemand, der gerade bei etwas erwischt worden ist – in gebrochenem Deutsch entgegen, ob ich ein Problem hätte. „Nein, ich nicht“, antworte ich und mir wird mulmig zumute. Hier trägt man gerne Messer in der Tasche, schießt es mir in den Kopf. Das kann böse ausgehen. Ich zeige auf die Frau. „Sie anscheinend schon.“ Das Wortgefecht dauert mehrere Sätze an, auf recht unterirdischem Niveau wie mir auffällt, während die Frau eilig in der Unterführung verschwindet und den tristen Ort hinter sich lässt. Ablenkung geglückt, jetzt noch ein bisschen hinziehen und bloß nichts eskalieren lassen. Etwa eine Minute später wirft der Fahrradfahrer mir noch einen drohenden Blick zu, steigt auf sein Fahrrad und radelt sodann selbst in den nach Urin riechenden Tunnel davon.
Das hier soll keine Geschichte sein, um irgendeine Tat von Zivilcourage oder sonst irgendeinem Blödsinn zu erzählen. Es soll eine Geschichte sein, die auf einen Missstand aufmerksam machen soll. Denn wenn eine Frau morgens um halb zehn am Ebertplatz nicht unbehelligt spazieren gehen kann, gibt es ein Problem. Ein sehr großes sogar. Vor allem dann, wenn wenige Meter weiter, um dieselbe Uhrzeit, Drogendealer versuchen ihr gestrecktes Zeug an den Mann zu bringen und dabei keine Rücksicht auf das Alter potenzieller Kunden nehmen.
Fehleinschätzung der Oberbürgermeisterin?
Am 20. Februar 2022 veröffentlichte der Kölner Stadt-Anzeiger im Rahmen der Reihe „Frau Reker, warum geht es nicht voran?“ ein Interview mit der Oberbürgermeisterin Henriette Reker – geführt mitten auf dem Ebertpatz, der Brunnen als Kulisse im Hintergrund. Darin erzählt sie, der Ebertplatz sei „zurecht als Comeback des Jahres 2018“ bezeichnet worden. Ein Platz, „den wir wiederbelebt haben“ und der „tagsüber wirklich lebenswert“ sei (Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=CO-Nj9DCS2g und https://www.ksta.de/koeln/koelner-ob-vor-ort-was-muss-am-ebertplatz-noch-besser-werden–frau-reker–39474022). Diese Sätze erscheinen als Hohn für alle, die tagtäglich danach gefragt werden, ob man denn nicht was Ganja kaufen wolle oder die sich unwohl fühlen, wenn sie nur aus der Bahn steigen. Ob die Frau in der von mir geschilderten Situation denselben Schluss ziehen würde?
Zugegeben, es kann sich bei dieser Situation auch nur um eine Streitsituation eines Liebespaares gehandelt haben – und ich hätte einfach überreagiert, mich ungefragt eingemischt und wäre mit diesem Artikel hier komplett ins Fettnäpfchen getreten. Situationen senden aber immer ihre ganz eigenen Atmosphären, versprühen ihre ganz eigene Aura. Und die Aura jener Situation sprach eine gänzlich andere Sprache als die einer Beziehungskrise – die Reaktion des Fahrradfahrers sowieso.
Ein „lebenswerter Platz“ sieht weiß Gott anders aus, da können ein funktionierender Brunnen oder angrenzende Galerien noch so sehr versuchen zu verdecken. Der Ebertplatz hat sich seit Jahren im Kern nicht geändert. Und wenn man weiterhin nur an der Oberfläche kratzt, wird das wohl auch nie passieren. Was muss noch geschehen, liebe Stadt Köln, bis endlich hart durchgegriffen wird? D
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Foto: An diesem tristen und unüberschaubaren Ort am Ebertplatz ereignete sich die beschriebene Situation.