Zeitzeugnisse aus dem Leben

Friedrich Seidenstücker war ein ganz besonderer Chronist des Großstadtlebens. Von den 1920er bis 1940er Jahren war er mit der Kamera in Berlin unterwegs, hielt in Schnappschüssen fest, wie die Menschen arbeiteten und ihre Freizeit verbrachten. 100 seiner Schwarzweiß-Aufnahmen sind jetzt in der faszinierenden Ausstellung „Leben in der Stadt“ im Käthe-Kollwitz-Museum zu sehen.

Eigentlich wollte der gebürtige Westfale in Berlin Maschinenbau studieren. Doch dann entdeckte er dort seine Liebe zur Bildhauerei. Besonders Tierplastiken hatten es ihm angetan. Zu Studienzwecken ging er mit der Kamera in den Zoo, erhielt dort sogar 1923 die offizielle Fotoerlaubnis. Von da an wurde die Fotografie sein Beruf. Und als er – durchaus nicht scherzhaft – Ähnlichkeiten zwischen Tier und Mensch feststellte, wurde Homo sapiens sein zweites Lieblingsmotiv.

Die Ausstellung ist thematisch gegliedert

Tiere, Freizeit, Arbeit, Kinder – die Ausstellung ist thematisch gegliedert. Und jedes Mal der Blick in eine vergangene Zeit. Zum Beispiel Berufe, die es nicht mehr gibt. Da wartet der Pferdedroschker schlummernd auf den nächsten Kunden. Auf dem Bahnsteig schleppen Gepäckträger Koffer, ein Müllträger buckelt eine Tonne, ein Papierträger einen mannshohen, überquellenden Sack. Arbeiter waschen sich, bevor sie Feierabend haben.

Seidenstücker ist dabei, wenn sich Männer raufen und ein Betrunkener festgenommen wird. Er beherrscht die Kunst des Augenblicks, drückt genau dann auf den Auslöser, wenn die elegant gekleidete Frau mit Stöckelschuhen beim Sprung über die Pfütze in der Luft schwebt – schafft sie es oder landet sie im Nass? Den Kindern jedenfalls sind Pfützen Abenteuerland.

Es sind nur Momente, die aber für das ganze politische und soziale Umfeld stehen. 1931 fotografiert er eine blinde Frau, sie sitzt am Straßenrand und bietet aus einer Schublade Streichhölzer oder Rasierklingen an. 1947 einen offensichtlichen Kriegsheimkehrer, der – im langen Mantel, seine Schuhe hat er ausgezogen – unter Plakaten kauert, die für Kulturveranstaltungen werben.

Ein „Momentknipser“ mit sicherem Blick

Voller Leben Schnappschüsse – er selber nannte sich „Momentknipser“ – von spielenden Kindern oder den Freizeitfreuden der großen und kleinen Berliner. Vor allem hier werden die sozialen Unterschiede deutlich – ein Grund, warum die Ausstellung in das Käthe Kollwitz Museum passt. Während die einen sich am Wannseestrand knubbeln und kuscheln, Vater und Mutter auf dem Tandem mit Kind vorn und hinten ins Wochenende fahren, spielen die anderen in eleganten langen weißen Hosen und Röcken Tennis. Und am anderen Ende der Gesellschaft stehen die Menschen vor der Arbeitslosenspeisung.

Zur gleichen Zeit sammelte im Rheinland der Fotograf August Sander seine „Menschen des 20. Jahrhunderts“: Menschen in überwiegend ernsten Posen – „Typen“ für einen Beruf oder eine gesellschaftliche Stellung. Anders dagegen die Schnappschuss-Porträts von Seidenstücker: Augenblicke voller Leben. Mit sicherem Blick spontan festgehalten. Auch wenn der Fotograf hierfür manchmal auf einen Baum klettern musste. Wie sich seine (Amateur-)Kollegen bei der Arbeit bisweilen verrenken müssen – auch das war ihm eine Aufnahme wert.

Ob Seidenstücker von Sanders Arbeit wusste, ist unbekannt. Aber auch andere Zeitströmungen wie das Bauhaus haben ihn offensichtlich nicht beeinflusst: Er hat seinen ganz eigenen Stil. Und dass Menschen Tieren nicht ganz unähnlich sind – zumindest wenn Seidenstücker sie fotografiert –, auch das kann man hier sehen.

Seine Fotos veröffentlichte Seidenstücker (1882-1966) in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, Beispiele hierfür sind in Köln zu sehen. Erst als 80-Jähriger hatte er seine erste – und einzige – Fotoausstellung. Sein Nachlass fand erst nach einigen Wirren eine Heimat – auch Dank des Kölner Foto-Galeristenpaares Ann und Jürgen Wilde. Die Kölner Exponate sind Leihgaben der Bayrischen Staatsgemäldesammlung München.

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Aktuell ist der Besuch wieder ohne Anmeldung und negativem Testausweis möglich.

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Foto 1: Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Friedrich Seidenstücker: „Potsdamer Platz“ (nach 1931), Silbergelatine-Abzug, Vintage.
Foto 2: Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Friedrich Seidenstücker: „Familientandem“ (1947), Silbergelatine-Abzug, Vintage. 
Foto 3: Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Friedrich Seidenstücker: „Pfützenspringerinnen“, (1925), Silbergelatine-Abzug, Vintage.

Zeiten: 

Bis zum 15. August 2021

Dienstag bis Sonntag:  
11:00 – 18:00 Uhr*

*Bitte die Sicherheitsmaßnahmen beachten!

Termin muss zuvor online gebucht werden:
https://besuch-kollwitz.de

Preise:

Eintritt: 6,00 €
Ermäßigt: 3,00 €

Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung: 

Käthe Kollwitz Museum Köln
Adresse: Neumarkt 18-24, 50667 Köln
Webseite: www.kollwitz.de/friedrich-seidenstuecker
KVB:
Linien 3, 4, 7, 9, 16, 18: Neumarkt

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