Projektionen der Hoffnung

Das Paradies ist nach Vorstellung verschiedener Religionen ein abgegrenzter Ort, an dem die Menschen vor ihrem Sündenfall und der anschließenden Verdammung lebten. Die Gefilde dieses Gartens sind demnach lediglich den „Gottesfürchtigen“ vorbehalten. Mit einer deutlichen Erweiterung des Terrains und einer Öffnung der Gefilde für alle Geschöpfe begeben sich Künstlerin und Kuratorin Christiane Rath sowie Literaturwissenschaftler Roberto Di Bella auf neue Wege vom dystopischen Hier zum utopischen Dort. In einem blühenden Sülzer Hinterhof standen die Initiatoren zum Interview zur Verfügung.

Angenommen, man nähme das beschränkte Terrain des biblischen Paradies als Gleichnis für die Himmelskörper in den unzähligen Galaxien, können Sie sich in Bezug auf Ungerechtigkeit und Leid einen schlimmeren Ort vorstellen, als unseren Planeten? Falls ja, leben wir dann nicht bereits in einem Paradies? Oder bleibt die Vorstellung utopisch?

Christiane Rath: Es bleibt auf ewig utopisch und eine Projektion der Hoffnung.

Roberto Di Bella: Wir hatten uns bewusst nicht auf ein singuläres Paradies bezogen, sondern ganz vielfältig gedacht. Für manche ist es eher religiös, für andere ist es eine Erinnerung an die Kindheit. Wir möchten von dem mystisch überhöhtem Weg und jedem Einzelnen die Möglichkeit geben, sein eigenes Paradies zu finden.

Aber leben wir nicht bereits mitten in diesem Zustand, wenn auch nicht permanent?

Roberto Di Bella: Wir sind in einer Situation, in der vieles, was vor einigen Jahren noch ganz alltäglich war, in weite Ferne gerückt ist, zum Beispiel Freundschaft, Nähe oder ein Händedruck. Eigentlich sind das die Dinge, die uns zum wahren Paradies fehlen.

„Über die Luft, die mir fehlt, denke ich vielleicht erst nach, wenn sie knapp wird, so auch über die Freiheit.“ Roberto Di Bella

Der Gegenpol im christlichen wie in anderen Kulturen ist die Hölle. Gibt es nicht auch dort Flecken paradiesischer Zustände?

Roberto Di Bella: Ganz bestimmt. Ich habe den Dante („Die göttliche Komödie“, Anm. d. Verf.) nicht zu Ende gelesen. Bis zum Paradies bin ich dort nicht gekommen. Ich fand die Hölle immer spannender. Sartre hat gesagt, „Die Hölle, das sind die Anderen“.

Wie lautet denn Ihr persönliches Gleichnis für das Paradies?

Christiane Rath: Fast jeder hat darauf eine Antwort. Meine eigene Vorstellung wäre ein Zustand, in dem ich keine Angst, keine Schmerzen und keinen Hunger, kurz, keine Entbehrungen hätte. Das kann ich im Diesseits schon erleben, weil ich auf der guten Seite der Welt geboren bin. Auch jetzt hier in diesem Garten zu sitzen, ohne das etwas aus dem Himmel auf uns herunterstürzt, dafür bin ich dankbar. Wir kommen in diesem Land dem Paradies sehr nahe, weil es fließendes, sauberes Wasser, einen Zugang zur Bildung, medizinische Versorgung und Schutz vor Übergriffen gibt.

Roberto Di Bella: Ich weiß nicht, ob man so über das Paradies nachdenkt. Es wird einem manchmal erst bewusst, wenn es die Anderen gibt, die genau diese Voraussetzungen nicht haben. Über die Luft, die mir fehlt, denke ich vielleicht erst nach, wenn sie knapp wird, so auch über die Freiheit.

Der Plural des Projekts verweist auf die Verschiedenartigkeit der Sehnsüchte. Auch hier also herrscht die Heterogenität vor. Was vereint die Menschen denn, außer der Tod, der keine Unterschiede zwischen Bankkonto oder Ideologien macht?

Christiane Rath: Das ist eine Frage, die zu groß für diesen Hinterhof ist.

„ … Noch habe ich ein Jetzt/ein heißes Bad, einen Spaziergang/etwas Geld für Wünsche, für Reisen/Noch sterbe ich nicht sofort, einsam, unbemerkt/mitten in der Nacht … “ Pilar Baumeister, „Das Paradies ist mein Jetzt“

Gibt es bei den zahlreichen Projekt-Teilnehmer*innen nicht einen gemeinsamen Nenner, oder sind die Arbeiten alle komplett verschieden?

Christiane Rath: Ein gemeinsamer Nenner wäre die positive Besetzung der Begrifflichkeit. Die Vorstellung eines Gartens, eines Baumes oder von Früchten spiegelte sich in vielen Arbeiten wieder. Die Antworten auf unsere Fragen an die Künstler*innen war fast immer mit Glücksmomenten verbunden, beispielsweise mit Szenen aus einer behüteten Kindheit.

Roberto Di Bella: Ich möchte das für die literarischen Beiträge relativieren. Dort schwang oftmals Skepsis mit. Das Paradies ist keine sichere Bank. Pilar Baumeister ist eine blinde Autorin, die sagt, „Mein Paradies ist das Jetzt!“ Das ist aber auch bedroht durch alle möglichen Entwicklungen. Lütfiye Güzel hat einen sehr melancholischen Text über den Tod ihres Bruders geschrieben. Dazu hat sie unter dem Titel „& das Gegenteil von Glück“ ein Video gedreht (das mit einem Prosatext unterlegt ist, Anm. d. Verf.).

Wie viele Künstler*innen sind am Projekt beteiligt?

Christiane Rath: 17 bildende Künstler*innen und 19 Autor*innen aus verschiedensten Kulturen. Was weiter wächst, sind die Forumsbeiträge, zurzeit mehr als 200, darunter auch Bilder von Kölner Grundschüler*innen.

Gibt es Genres, die überwiegen?

Roberto Di Bella: Innerhalb der Blöcke gibt es die unterschiedlichsten Ausdrucksformen, etwa Zeichnungen, Skulpturen, Videos, Gedichte oder Kurzgeschichten.

Sind weitere Einreichungen zur Veröffentlichung möglich?

Christiane Rath: Jeder auf dieser Welt kann Beiträge auf das Forum stellen. Das geht über E-Mail an meine@paradiese.koeln.

Der ursprüngliche Ausstellungstermin für das Projekt lag im Mai 2020. Mittlerweile wurde der Event mehrmals verschoben. Inwiefern hat der Ausbruch der Corona-Pandemie das Unterfangen beeinflusst?

Roberto Di Bella: Für uns hat der Begriff „Paradiese“ noch einmal eine andere Bedeutung bekommen. Was ist denn eigentlich paradiesisch, wenn man darüber nachdenkt, was jetzt nicht möglich ist?

Was haben Sie aus der Arbeit am Projekt persönlich gelernt?

Roberto Di Bella: Das Wichtigste ist uns, dass die Arbeiten im Raum zusammen wirken. Was aus dem Projekt zu lernen wäre, ist, was jetzt noch kommen könnte. Wir hatten durch die Termin-Verschiebungen die Gelegenheit noch intensiver am begleitenden Katalog zu arbeiten. Außerdem ist die Web-Seite zu einem eigenen dynamischen Objekt geworden.

Christiane Rath: Ich habe einige Erfahrungen gemacht, die ohne diese Pandemie nicht zustande gekommen wären, beispielsweise viele freundliche, sensible und dankbare Briefe. Im Zuge einer Ausstellungsorganisation habe ich selten so viel Wärme empfunden. Die Leute sind sehr verständnisvoll, weil wir alle das gleiche Schicksal teilen.

Wie sollen die Werke, insbesondere auch die Texte, anschaulich präsentiert werden?

Christiane Rath: Auch die Texte sollen permanent ausgestellt werden. Beispielsweise in Bilderrahmen oder mittels Folien auf den Schaufenstern der Kunsthalle. Alles soll präsent sein.

Was kommt nach dem Paradies?

Christiane Rath: Vielleicht gibt es ein neues Projekt mit bildender Kunst und Literatur. Die Homepage bleibt auf jeden Fall weiter bestehen und bietet Inspirationen an.

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Termin: „Paradiese“, 13.08.2021 – 27.08.2021 (unter Vorbehalt), Kunsthalle Lindenthal, Aachener Str. 220, 50931 Köln. Die Ausstellung wird durch die Stadt Köln gefördert.

www.paradiese.koeln
www.68elf.de
www.fremdworte-autorencafe.de
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Foto 1: Thomas Dahl – Christiane Rath und Roberto Di Bella hatten zum Gespräch in einen blühenden Hinterhofgarten geladen. 
Foto 2: Bernd Miesing – „Die Träume des Antonius“, Öl auf Leinwand, 80 x 120 cm, 2017. 
Foto 3: Thomas Jarzina – „Paradiese I“, Digitaldruck auf Aluverbund, 155 x 90 cm, 2020. 
Foto 4: Christiane Rath – „Menschennest“, Äste, Zweige, Blätter; Durchmesser: ca. 2 m, 2021.
Foto 5 (in der Galerie): R. Khaffaf – „Wo ist das Paradies“, Skulptur, Metall und Papier, Höhe: 170 cm, 2021.

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