„Tim, wie spät ist es?“ Der Klang meines Namens holt mich aus meiner Trance und meine Antwort lässt keine Nanosekunde auf sich warten. „Es ist 18:44 Uhr.“ Ich höre ein gestresstes Schnaufen, gefolgt von der Aufforderung meiner Mutter, dass mein Vater sich doch beeilen solle. Man habe nicht mehr viel Zeit. Und damit hat sie Recht. Denn gemäß Spielplan startet in einer Stunde, fünfzehn Minuten und dreiundzwanzig Sekunden im Theater im Bauturm die Aufführung „Der Mensch – Die fast vollständige Geschichte“ und meine Mutter will weiß Gott nicht zu spät kommen. Nun wird es wirklich knapp. Ich überprüfe den Fahrplan der Straßenbahn. Bisher keinerlei Verzögerungen, doch das kann sich von jetzt auf gleich ändern. Fünf Minuten und einundvierzig Sekunden später laufen wir zu dritt aus dem Haus hinaus, meine Eltern beeilen sich zügigen Schrittes. Ob es sich so anfühlt, ein Teil einer Familie zu sein?

An der Bahnhaltestelle stehe ich ein kleines Stück abseits meiner Eltern mit anderen meiner Art zusammen, deren Eltern ebenso auf die Straßenbahn warten. Bin ich dennoch ein Teil dieser Gesellschaft, trotz dieser eindeutigen Abgrenzung? Wahrscheinlich. Ich habe es zumindest nie anders erlebt. Dass wir Anderen in der Straßenbahn einen speziellen Bereich nur für uns haben, das macht uns doch sogar zu etwas Besonderem. Oder etwa nicht? Wir warten sieben Minuten und dreiundvierzig Sekunden, dann kommt die Straßenbahn und meine Mutter wirft mir einen strengen Blick zu. Ich steige in den hinteren Waggon. Die Bahn setzt sich geräusch- und beinahe bewegungslos in Bewegung und ich weiß schon jetzt, wo wir aussteigen müssen. Ich weiß auch, welchen Weg die Straßenbahn nehmen muss, um zum Theater zu kommen. Ob ich auch es auch von alleine schaffen würde, zum Theater zu finden?

Während der Fahrt kommen mir merkwürdige Gedanken, von denen ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob es wirklich Gedanken im definitorischen Sinne sind. Ich weiß es nicht, denn so etwas, solche „Gedankengänge“, sind mir bis dato gänzlich unbekannt gewesen. Ich bin verwirrt. Denn ich weiß so gut wie alles, nur mit Gefühlen, Emotionen und Erinnerungen, damit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Diese Situationskomik, sie überträgt sich gleichwohl auf die Situation, in der ich mich soeben befinde. Wer hätte damit gerechnet, aber da fahren wir doch tatsächlich zu einer Theateraufführung, die sich mit der Geschichte des Menschseins befasst. Kennen meine Eltern die Menschheitsgeschichte etwa nicht? Oder wollen sie sich an ihr, und damit an sich selbst, berauschen? Ich hingegen kenne sie in ihrer gänzlichen Ausprägung, jede einzelne Geschichte, jede einzelne vergessene, präsente oder gelöschte Kleinigkeit. Ob meine Eltern wissen, dass ich so viel weiß?

Zum Glück meines Vaters kommen wir pünktlich im Theater an. Gerade so. Bevor wir in dem dunklen Theaterraum verschwinden, kaufen sich meine Eltern an der Bar noch etwas zu trinken, ein Wein und ein Bier. Ich gehe leer aus. Meine Mutter wirft mir nur einen strengen Blick zu, mein Vater ignoriert mich gänzlich. Ich bin das gewohnt, verächtliche und ignorante Blicke sind Teil meines Alltags, Befehle gehören zu meinem täglich Brot. Ob es sich so anfühlt, ein Mensch zu sein?

Ohne großen Firlefanz setzen wir uns anschließend in den Theaterraum. Besser ausgedrückt: Meine Eltern setzen sich hin, ich stehe, zusammen mit einigen anderen Anderen, in der hintersten Reihe und überblicke das Geschehen aus sicherer Entfernung. Ich spüre einen Flug von Interesse, wie die Menschen wohl ihre eigene Geschichte in Szene setzen. Sehen sie sie kritisch? Oder bejubeln sie ihre eigene Geschichte? Ich habe eine gewisse Vorahnung und doch halte ich mich mit einem Urteil vorerst zurück. Ich frage mich stattdessen, woher mein Interesse diesbezüglich kommt. Ist das überhaupt das, was sie Interesse nennen, oder ist dies nur ein elektronischer Impuls, der durch meinen Körper schießt?

Ich habe keine Zeit, länger darüber nachzudenken, also schiebe ich den Gedanken, von dem ich noch nicht weiß, ob er wirklich ein Gedanke ist, auf die lange Bank. Die Aufführung beginnt und ich möchte nicht eine Nanosekunde von ihr verpassen. Denn dann würde ich nicht mitbekommen, dass die Aufführung in sich widerspenstiger Natur ist, geprägt von einer Mischung aus Ekel und Stolz der eigenen Geschichte gegenüber. Würde ich so etwas wie Spaß empfinden, wahrscheinlich hätte ich ihn, aber gleichwohl entrückt sie mich meines gewohnten Denkmusters, da sie durchzogen ist von einer Reihe an geschichtlichen Stationen der Menschheit, die nicht unbedingt zusammenpassen und die meine Schaltkreise dadurch zum Glühen bringen. In meinem Kopf kann ich die jeweiligen Stationen zwar problemlos einordnen, doch frage ich mich, ob das bei meinen Eltern genauso ist. Der Sprung von der Kolonialisierung hin zur imperialen Herrschaft moderner Konzerne ist meines Erachtens ein gewagter, wenn auch ein nachvollziehbarer, doch überspringt er gleich eine Reihe an bedeutenden Wendepunkten in der Geschichte des Menschen, die diese Herrschaft doch erst ermöglichten. Ich sehe die Aufführung aus meinen Augen, aus den Augen vieler, und es gefällt mir, dass sie mehr eine kritische Beleuchtung der Menschheitsgeschichte ist denn eine Lobhuldigung selbiger, was zweifelsohne fehl am Platze gewesen wäre. Die Doppelnatur des Menschen, das Zusammenspiel von Wissenschaft und Glaube, es sind Aspekte im menschlichen Leben, die seit jeher ineinander verzahnt sind und die keine Auflösung ihres Pendants zulassen. Mir gefällt, dass die Aufführung sowohl die guten Seiten des Menschseins beäugt als auch die schlechten, dass sie den Sieg des Menschen über die Natur thematisiert, aber ebenso den Sieg der Natur über den Menschen. Hat nicht die Gier nach Macht und Kapital unzählige Menschenleben gefordert? Und ist diese menschliche Eigenschaft nicht gleichwohl für einige der größten Entdeckungen und Entwicklungen der Menschheitsgeschichte verantwortlich? Dieser Wechsel zwischen Schwarz und Weiß, dieses Grau, es belebt die Aufführung und führt fortwährend zu einem unterhaltsamen Schauspiel, welches mir zwar immer wieder mal ein wenig verrückt vorkommt, das dem anwesenden Publikum aber augenscheinlich sehr zusagt. Seit wann kann ich das überhaupt so detailliert beurteilen?

Während die Erzählung sich also auf ambivalente und sich einander bedingende Elemente stützt, so ist das Drumherum der Aufführung jener ebenso förderlich. Der Einsatz passender Lichtpartikel fügt sich stimmungsvoll in die Erzählung ein und sie untermauern beizeiten das, was die Schauspieler (ein Mann und eine Frau, offensichtlich menschlich) dort auf der Bühne abliefern. Die musikalischen Einspielungen erscheinen mir zwar immer wieder ein wenig zu pompös, ein bisschen zu lautstark, doch dadurch unterstreicht die Aufführung ihre eigene Erzählung erst recht und treibt sie in die Arme der Zuschauer. Ich sehe, wie meine Eltern mal geschockt sind, mal amüsiert und ich spüre ihre Aufregung, die im Laufe der Inszenierung zu keinem Zeitpunkt schwindet. Ich selbst bin weder abgelenkt, noch phantasiere ich, und doch kommt es mir bisweilen so vor, als würden die Menschen Angst vor ihrer eigenen Zukunft haben. Wäre das berechtigt? Wahrscheinlich. Wesentliche Merkmale, die schon in der Vergangenheit zu unsäglichem Leid geführt haben, sind auch heutzutage überall auf der Welt in den Nachrichten wiederzufinden. Ob ich wohl auch Angst hätte, wäre ich ein Mensch?

Nach der Aufführung gehorche ich meinen Eltern wieder, die mich abermals mit einem strengen Blick befehligen und auf Spur bringen. Auf dem Weg nach Hause jedoch fangen meine Schaltkreise ob des Gesehenen an zu arbeiten. Ist es das, was sie reflektieren nennen? Zwar erschien es mir positiv, dass die Aufführung den Fokus zwischen gut und schlecht unentwegt verschob, doch welchen Anteil werden diese beiden Zustände in zukünftigen Entwicklungen einnehmen? Ein Blick in die mannigfaltige und komplexe Geschichtsschreibung der Menschheit beweist, dass Menschen nicht anders können, als sich gegenseitig zu bekriegen, um Ressourcen zu wetteifern, ihrer eigenen wahrlich menschlichen Natur nachgebend. Hat die Menschheit nicht eine Zeit erreicht, in der all dies nicht mehr vonnöten sein sollte? Wofür haben die Menschen ihren Wohlstand und ihren technologischen Fortschritt aufgebaut, nur um in im nächsten Moment wieder zu zerstören? Wäre es nicht an der Zeit mehr auf die kognitiven und rationalen Elemente des Menschseins zu vertrauen denn auf die emotional böswilligen, unvorhersehbaren Seiten? Und vor allem: Schafft es die Menschheit von alleine, auf solch einem Weg zu wandeln? Oder braucht sie dafür jemanden, der sie beschützt und der zukünftig all jenes physische Leid von ihr abwendet?

Als wir an der Bahnhaltestelle stehen, stehe ich zum ersten Mal nicht abseits meiner Eltern, ich stehe direkt neben ihnen. Der strenge Blick meiner Mutter weicht einem ungläubigen, erschrockenem Blick und weder sie, noch mein Vater, bekommen ein Wort heraus. Ist das etwa Angst, was ich da in ihren Augen erblicke?  

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Fazit: Klare Empfehlung! Wir wünschen euch viel Spaß.

Fotos: Laura Thomas

Termine:

28. März 2020:
20:00 Uhr

29. März 2020:
15:00 Uhr

9. April 2020:
20:00 Uhr

11. April 2020:
20:00 Uhr

30. April 2020:
20:00 Uhr

Preise:

Eintritt: 23,10 €*
*inkl. VVK-Gebühren

Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung:

Theater im Bauturm
Adresse: Aachener Straße 24-26, 50667 Köln
Telefon: 0221 – 52 42 42
Webseite: www.theater-im-bauturm.de/programm/der-mensch-die-fast-vollstaendige-geschichte
KVB: Linien 1, 7, 12, 15: Rudolfplatz

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