Als Film mit Judy Garland in der Hauptrolle wurde das Kunst-Märchen vom „Zauberer von Oz“ auf der ganzen Welt verbreitet: Ein rührseliges Stück über das kleine Mädchen Dorothy, das durch einen Wirbelsturm ihrer Heimat entrissen wird und erst nach gefährlichen Abenteuern wieder zurückfindet. Geschichtsvergessener und verlogener Kitsch findet Regisseur Tom Müller. Im Theater der Keller hinterfragt er die Geschichte mit Axt und Skalpell und erntet dafür langen Premierenbeifall.
Verpackt ist das Stück in eine Familiengeschichte: Vater, Mutter und zwei Kinder (Simon Rußig, Karolina Horster, Tim-Fabian Hoffmann und Frank Casali) – konservativ, kleinkariert und gereizt – langweilen sich auf leerer Bühne. Dann die rettende Idee: Spielen wir doch mal den „Zauberer von Oz“ nach. Unter dem flackernden Schriftzug „Fuck Home“ entwickelt sich eine zeit- und historienkritische Collage. So bunt wie die genderneutralen Kostüme des Bühnenquartetts. Und wenn dieses es zu bunt treibt, dann grollt der böse Zauberer lautstark dazwischen.
Viele Ansatzpunkte für eine kritische Hinterfragung
Das gut 100 Jahre alte Märchen und seine Verfilmung bieten genug Anhaltspunkte zu einer kritischer Auseinandersetzung. Dazu zählen insbesondere die Verklärung von Heimat und Familie. Etwa das Bild von Kansas als idealtypische ländliche US-Idylle. Tom Müller erzählt als Gegenbild die Geschichte der brutalen Aneignung durch weiße Siedler und die damit verbundene Vernichtung der indigenen Bewohner – historischer Rassismus mit ungeplanter Aktualität. Bei den Proben – die Premiere war für März geplant – wusste man noch nicht von den derzeitigen weltweiten „Black Lives Matter“-Demonstrationen.
Dann „Heimat“, ein gefühlsbeladenes, zwiespältiges Thema. Hier macht sich Müller zur Ratefreude des Publikums einen Spaß daraus, quer durch die Geschichte zu zitieren – von Novalis und Nietzsche bis zu den Grünen und Björn Höcke. Ein weiteres „Kapitel“ ist Judy Garland gewidmet, die mit diesem Film ihre Karriere startete, dafür aber bis an ihr Lebensende – sie starb 1969 mit 47 Jahren an einer Überdosis Schlaftabletten – bezahlte mit lebenslanger Medikamentenabhängigkeit. Eine Reaktion auf den Druck des Showbiz. Aus Solidarität mit ihr ziehen die vier Schauspieler auch Garland-Masken über, derweil die Hollywood-Legende mit ihrem weißen Gesicht und schwarz bezopft im Hintergrund projiziert wird.
Idylle Heimat – nicht ohne heile Familie denkbar
Heimat – dazu gehört auch eine heile Familie. So wird auch dieses Konstrukt hinterfragt. Da wird an die Ärztin Johanna Haarer erinnert, deren Thesen zur Kindererziehung im Nationalsozialismus Hochkonjunktur hatten und erst in den 1960er Jahren als „schwarze Pädagogik“ aussortiert wurden. Auch eine feministische Schriftstellerin wird erwähnt, die Raupe Nimmersatt spielt mit. Leider überfrachten derlei Puzzleteile das intelligente Spiel, heben sich in ihrer Wirkung gegenseitig auf und tragen zur Überlänge von gut 100 Minuten bei.
Doch dagegen hilft der energiereiche und mitreißende Einsatz der Vier: Eine perfekte Ensembleleistung mit leichten Vorteilen für Karolina Horster. Das Bühnengeschehen stand im Zeichen der Corona-Abstandsregeln. Sich berühren war also tabu. Gleichsam als Ersatz legte das Ensemble zum Schluss eine Gleitorgie auf wassergenässter Bühne hin. In hautengen Goldtrikots – denn man will ja auch mal glänzen.
Foto: Jan Niklas Berg – Spielen das Märchen „Der Zauberer von Oz“ – aber ohne falsche Heimeligkeit: Karolina Horster, Frank Casali, Tim-Fabian Hoffmann, Simon Rußig (v.l.).
Zeiten:
25. Juni 2020:
20:00 Uhr
26. Juni 2020:
20:00 Uhr
Preise:
Eintritt: 19,80 €
Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung:
Theater der Keller e.V.
Adresse: Siegburgerstraße 233w, 50679 Köln
Webseite: https://www.theater-der-keller.de/index.php/der-zauberer-von-oz.html
KVB: Linie 7: Poller Kirchweg