Quälend schleppe ich mich zur Bahn. Muss ich mir das jetzt wirklich geben, frage ich mich, denn nach neun Stunden Arbeit habe ich nur wenig Lust, mich noch ins Theater zu setzen. Doch ja, ich muss. Denn ich gehe im Rahmen der Universität zur Inszenierung von ‚Don Quijote‘ im Schauspiel Köln und das kann ich einfach nicht verpassen. Nur noch ein paar Stunden und ich kann endlich ins Bett. Wird schon nicht so schlimm sein. Und mal schauen, was ich heute so an Eindrücken mitnehmen darf…
Unterwegs bessert sich meine Laune dann. Eine Kommilitonin kommt auf mich zu und wer hätte das gedacht, sie hat genauso wenig Lust auf den Abend wie ich. Theater als Zwang, so im Zuge der Universität, das gefällt uns irgendwie nicht. Also sind wir, was das angeht, schon einmal zu zweit. Immerhin. Als wir auf dem Weg noch andere treffen, denen es genauso ergeht, können wir uns das ein oder andere Lachen nicht verkneifen. Studenten und Motivation, das sind zwei Dinge, die nicht immer zusammen passen.
Im Depot 1, dem großen Saal der Interimsspielstätte des Schauspiel Kölns in Mülheim, ist relativ wenig los, als wir ankommen. Wir können uns unsere Plätze frei aussuchen und ich setze mich idiotischerweise in die dritte Reihe, was ich im Laufe der Aufführung noch bereuen werde. Denn das Ensemble wird viel mit dem Publikum interagieren und ich werde immerzu meinen Nacken verrenken müssen, was einfach nervt. Meine Kommilitonin, mit der ich zum Theater gelaufen bin, sitzt irgendwo weiter hinten und hat sich damit eine bessere Position als ich gesichert. Aber andererseits, neben mir sitzt eine andere Kommilitonin, die es mir ziemlich angetan hat. Auch nicht schlecht. Der Gedanke, ob ich sie nach der Aufführung nach ihrer Nummer fragen soll, schießt mir durch den Kopf, aber ich verschiebe ihn auf den nächsten Tag. Auf den letzten Tag unseres Kurses. Dass ich den dann vollkommen verpenne, das passt zu mir. Schicksal.
Je später es wird, desto voller wird der Saal. Als ein Teil der Schauspieler vor den Vorhang tritt und die Inszenierung in witziger Manier ankündigt, erwarte ich Großes. Sie beginnen mit Auszügen aus dem Originaltext von Miguel de Cervantes aus dem Jahre 1605 und nehmen sich dabei selbst nicht allzu ernst. Das macht Spaß und gibt Lust auf mehr. Läuft.
Ohnmacht befällt mich, als der Vorhang zur Seite weicht und den Blick auf das Bühnenbild freigibt. Ein Berg aus Schrott, so scheint es zumindest, steht mitten im Raum. Aus ihm heraus ragt ein riesengroßer Fernseher, vor dem der spätere Don Quijote sitzt, die traurige Gestalt des Stückes. Szenen aus Pulp Fiction und anderen Filmen erscheinen auf dem Gerät, mit rockiger Musik unterlegt und schwindelerregend zur Schau gestellt. Gerade in den ersten Minuten fühle ich mich überfordert und kann die Immersion nicht packen, da einerseits auf der Bühne viel passiert, andererseits bietet das Bühnenbild einfach zu viel Blickfläche, die mich ablenkt. Das legt sich zwar nach einiger Zeit, auch weil irgendwann der ganze Raum genutzt wird, aber ich muss mich gerade zu Beginn recht stark um Konzentration bemühen.
Theatralisch entscheidet sich der kleine Quijote wenige Minuten später für einen strammen Knappen, der ihn auf seinen Abenteuern begleiten soll. Während sich der fahrende Ritter und sein Begleiter auf die Reise begeben, um windmühlenartige Drachen zu bekämpfen, blutige Schlachten zu führen oder einfach nur ein bisschen Anerkennung zu erlangen, durchlaufen sie eine Welt der medialen Reizüberflutung, die sich durch den Gebrauch unterschiedlichster Elemente widerspiegelt. So kämpft Quijote wie im Videospiel Street Fighter zu Super-Mario Sounds, bevor er wie in Interstellar durch den Weltall schwebt oder in die Welt von Star Wars eintaucht und sich wilde Laserschwert-Duelle liefert. Das ist viel, das ist aufregend. Und nach der Aufführung darf ich diese Eindrücke auch erst einmal verdauen. Mediale Reizüberflutung, ein Thema das uns alle beschäftigt und das gerade in dieser Inszenierung neue Formen annimmt. Eine Thematik verschwimmt mit der nächsten, geht in eine andere über und bringt mich beizeiten an die Grenzen meines müden Verstandes. Gesellschaftskritische Elemente finden sich während der gesamten Aufführung, doch ich habe Mühe sie alle einzufangen. Zu sehr zieht mich die mediale Besinnungslosigkeit in ihren Bann und wieso sollte ich mich dann noch um gesellschaftliche Probleme kümmern? Dass Quijote in der berühmten Rotweinszene anstelle von Weinschläuchen Nestlé-Wasserflaschen zusammenschlägt, wen interessiert das schon?! Hauptsache, ich kann mich der medialen Dauerbeschallung hingeben…
Erst zum Ende der Aufführung hin wird Quijote auf das von ihm geführte Leben in seiner Fantasiewelt hingewiesen, man versucht, ihn endgültig davon abzubringen. „Du darfst nicht alles glauben, was du liest!“, wird ihm vorgeworfen und langsam aber sicher bröckelt die von ihm gelebte Fassade dahin. „Es geht um Freiheit!“, widerspricht er sinngemäß. „Es geht darum, den Mut zu haben, sich Abenteuern zu stellen. Seine Freiheit zu leben.“ Und obwohl er dasselbe Ende wie im Buch de Cervantes findet, so ist es Quijote, der als einziger die Wahrheit findet und sie ausspricht. Denn aller medialen Einflüsse zum Trotz ist er der Einzige, der deren erstellte Illusionen durchbricht, während er gleichzeitig in sie hinein taucht. Und ganz zum Schluss reitet ein neuer, heldenhafter Quijote dem Sonnenuntergang und neuen Abenteuern entgegen, neben ihm sein tollpatschiger Knappe auf einem Pony. In der Realität. Unbefangen medialer Verblendungen.
Fotos: David Baltzer