In der griechischen Mythologie wird die Hydra als ein Wesen beschrieben, das unsäglichen Schrecken verbreitete und nur mit beispielloser List ausgeschaltet werden konnte. Ein mehrköpfiges Schlangenwesen, das jedes Mal, wenn man ihr einen Kopf abschlug, gleich ein neues Paar hinzugewann. Wie wird man Herr über solch ein Monstrum? Sieht man sie als ein Gleichnis an, so müsste man sie unberührt lassen, um bloß keinen größeren Schrecken entstehen zu lassen. Zieht man jedoch Herakles heran, der ihr gemeinsam mit seinem Neffen Iolaos den Gar ausmachte, so besteht die einzige Möglichkeit zum Sieg darin, den Rumpf der Hydra zweizuteilen und die Nacken auszubrennen, um auch ja keinem Kopf die Gelegenheit zu geben, in doppelter Ausführung nachzuwachsen. Lässt man sie also eher unbeirrt ihres Weges gehen, immer in der Angst davor lebend, sie könnte einen zu jedem Zeitpunkt verschlingen und ganze Landstriche verwüsten? Oder nimmt man sich dem Beispiel Herakles an, das von Tatendrang und Heldenmut, Vertrauen und Cleverness spricht und welches die Hydra für immer in die Untiefen des Hades schickte?

Die Hydra, sie wurde in der Produktion „Frei//Sein“ gleich zu Beginn auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert. Wofür sie dabei steht und wie mit ihr umzugehen sei, das war in diesem Fall allerdings, wie so häufig, Interpretationssache. Verglichen mit einem Monster, das einen Rechtsruck in die Mitte der Gesellschaft bringt, bis hin zu einem müden und resignierten Wesen, dessen sozialgesellschaftliche Anstrengungen im Sande verlaufen, hinfort gespült von den großen Wellen gesellschaftlicher Prozesse selbst, die Liste an Eigenschaften, die die Inszenierung der Hydra auf die Stirn drückte, sie war lang. Freilich, sich die Hydra als ein Wesen vorzustellen, das für Recht und Ordnung einsteht, welches Freiheit und Gerechtigkeit propagiert, diese Vorstellung erscheint realitätsfremd, absurd und auf beängstigende Art und Weise paradox. Und sie verwirrte mich. Hätte Herakles dann überhaupt gegen sie kämpfen müssen? Und wäre damit nicht jede Anstrengung, die Bedrohung der Hydra einzudämmen, umsonst gewesen?

Interessant erschien mir diese mehrköpfige Bedeutungsvielfalt der Hydra aber insbesondere vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Freiheitsdefinitionen, die die Produktion in ihrem Verlauf abhandelte und die die Orangerie in einen Tempel der Verwirrung tauchten. Sich überlappende Streitgespräche der Schauspielerinnen schienen wie drei Köpfe der Hydra, die sich in ihrem Zorn nicht entscheiden konnten, welcher Kopf das Opfer denn nun verschlingen dürfe. Performances, die das Thema der Freiheit ins Lächerliche zogen und die mich damit in einen Strudel freiheitlicher Gedankenspiralen zogen, ließen meinem Kopf keine Ruhe und warfen mich mit Schmerzen in den Dreck. Was war Freiheit nochmal? Und wofür steht die Hydra hier? Ich hatte mich verirrt, und doch war mir eines klar: Freisein, das will ich gar nicht mehr. Die Freiheit, diese Dirne der Verlockung, diese Mätresse der Versuchung, sie zerrte an mir wie eine Karaffe Wein in Zeiten eigener Abstinenz und ich widerstand dem Verlangen, meine Freiheit sogleich in Anspruch zu nehmen und den Theatersaal sofort zu verlassen.

Wer sich indes ein wenig mit dem Theater auskennt, dem mag es paradox vorkommen, dass gerade im Theater das Thema Freiheit auseinandergenommen wird. Das Theater selbst, ein sich stetig wandelndes, vergilbtes Königshaus, geführt von scheidenden, thronenden und abtrünnigen Königen, von Tyrannen, Philosophen und Gelehrten, es hat mit Freiheit in etwa so viel gemein wie das trojanische Pferd mit ehrlichen Absichten: nichts. Umso schöner fand ich es, dass die Produktion das Theater selbst in den Sog der Charybdis zog und sich dahingehend hinterfragte, wie frei man denn ist, wenn man immerzu von Hierarchien, von Zwängen und von Einschränkungen getrieben ist. Ist man wirklich frei, wenn man im Kollektiv arbeitet? Kann Kunst wirklich frei sein? Oder ist die Freiheit nur eine Illusion, derer man sich annimmt, weil sie alternativlos ist?

Würde ich mich hingegen in meiner Freiheit eingeengt fühlen, ich empfände wahrscheinlich ebenso wie der eingeengte Raum, in dem sich die Inszenierung abspielte und der nur gelegentlich durchbrochen wurde, nur um alsbald wieder Grenzen zu ziehen. Sobald der Vorhand fällt, könnte ich mit der mir gegebenen Freiheit überhaupt verantwortungsvoll umgehen? So, wie Gott es von mir verlangen würde? Nein. Denn mit aller Wahrscheinlichkeit würde ich den Vorhang wieder aufziehen, nach außen hin, ich würde glitzernde Steinchen und leuchtende Sterne anbringen und mir die Bibel zur Nachtlektüre neben das Bett legen.

Ich selbst würde mir einen Kopf abschneiden, nur damit zwei neue nachwachsen. Denn mein Kopf, er wiegt schwer, vor solch freiheitlichen Begehren und ebenso vor lauter Impressionen, die mir die Aufführung an den Kopf geworfen hat. Ob ich es gut fand? Das dürft ihr, nach Lesen dieses Textes, ganz nach eigenem, freiheitlichem Empfinden einordnen.
Ich wünsche euch viel Spaß. Oder eben nicht.

Die restlichen Termine der Aufführung findet ihr hier: Frei//Sein – Orangerie – Theater im Volksgarten

Fotos 1 + 3: Ingo Solms
Foto 2: Robin Junicke

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