Als ich um 19:42 Uhr an der Keupstraße aus der Bahn steige, verschwende ich keinen Gedanken daran, auch nur ein Wort über das Theaterstück zu schreiben, zu dem ich gerade auf dem Weg bin. Ich habe sogar großkotzig angekündigt, dass ich es nicht machen werde. Ich muss ja noch mit Theater warm werden, und so. Bullshit. Denn ich weiß ja gar nicht, worauf ich mich an diesem Abend einlasse. Aber das Thema bewegt mich, es reißt mich mit und es ist mir wichtig. Türken gegen Deutsche. Deutsche gegen Türken. Türken gegen Türken. Und genau aus diesem Grunde folgt nun ein Kommentar, basierend auf einem Theaterstück. Basierend auf der Realität. Und eine Theaterkritik ist er ebenso, aber irgendwie ist die vor diesem Hintergrund nur zweitrangig…
„Für mich ist Istanbul eine der schönsten Städte der Welt. Doch an jenem Tag kam sie mir so hässlich vor.“ Doğan Akhanlı wurde 1957 in der Türkei geboren und lebt seit 1992 in Köln. Er ist ein vielfach gefeierter Schriftsteller, in vielen seiner Werke verarbeitet er Erfahrungen, macht auf Missstände aufmerksam, rüttelt wach. Demnach ist es keine große Überraschung, ihn zusammen mit anderen Darstellern auf der Bühne zu sehen, wenn es um Themen geht, die sich mit der aktuellen politischen Lage in der Türkei und dessen Auswirkungen auf das Leben vieler in Deutschland lebender „Türken“ befassen. Mit ihm auf der Bühne stehen ein Ire, eine Deutsche und drei weitere türkischstämmige Darsteller. Erstere gehören dem Schauspielensemble an, letztere sind Geschäftsleute und Anwohner der Keupstraße. Und das große Thema des Abends ist, für mich zumindest, die interkulturelle Diskussion.
Dabei spielt es gar keine Rolle, ob alle eine schauspielerische Glanzleistung abliefern. Noch, ob sie die Meinungen, die sie auf der Bühne vertreten, auch wirklich im echten Leben besitzen. Wichtig ist die Botschaft, die das Stück vermitteln möchte, und die damit einhergehende Kritik. Die sich sowohl an die türkische Regierung richtet, als auch an die Gesellschaft an sich.
„Wir reden alle von Menschlichkeit, aber es passiert nichts.“ Heuchelei ist ein wichtiges Stichwort des Stückes. Menschen, die zu jeder Zeit Menschlichkeit predigen, aber selbst nicht um die Ecke denken können, die finden wir an jeder Ecke, seien wir doch mal ehrlich. Verständnis für andere Menschen und insbesondere deren, vom eigenen Standpunkt abweichende, Meinungen aufbringen? Oftmals Fehlanzeige. Empathie? Blubb. Aber Hauptsache den moralischen Superhelden spielen. „Niemand fragt, weshalb die Leute die AKP, oder auch die AfD, wählen. Aber mit dem Zeigefinger herum wedeln, das geht.“
Letztlich gehe es bei vielen „Ausländern“ oftmals darum, eine Heimat zu finden und anerkannt zu werden. Es gehe um den gescheiterten Versuch, in einem Land anzukommen, in dem eine türkischstämmige Familie bereits seit drei Generationen lebt, und dennoch von den hier lebenden Menschen als „Türke“ bezeichnet wird. „Meiner Tochter, sie ist sieben Jahre alt, wird ständig von allen Seiten eingetrichtert, sie käme aus der Türkei, dabei wurde sie in Köln geboren.“ Dieser Satz von Kutlu Yurtseven sagt viel aus, über gescheiterte Wahrnehmungen und gestörte Nationalempfinden. Über Ausgrenzung und den Schmerz, sich in seiner eigenen Heimat nicht heimisch fühlen zu können. Und dabei könnte es so einfach sein…
Verfolgt man das Stück über seine etwas mehr als 90 Minuten Länge, dann wird eines deutlich: mit dem Auseinandersetzen konträrer Meinungen, mit dem Mut, Diskussionen zu starten und sich mit dem Leben und den Wünschen anderer Personen zu beschäftigen, es könnte dazu führen, dass man Verständnis für sein Gegenüber aufbringt. Und sich als Folge dessen Missverständnisse und Vorurteile im Keime ersticken lassen, Zusammenhalt entsteht und sich die interkulturelle Gemeinschaft festigt. „Kritik muss natürlich sein, aber das Recht, andere aufgrund deren Meinungen zu verurteilen, das können sich nur die wenigsten erlauben.“
Als ich nach dem Theaterabend nach Hause fahre, ich wohne in Kalk, steige ich bewusst eine Station vorher aus, um die Eindrücke noch einmal auf mich wirken zu lassen. Ich laufe die Kalker Hauptstraße herunter und genieße das Bewusstsein, dass ich beispielsweise immer, wenn ich will, in den türkischen Supermarkt um die Ecke gehen kann, in dem ich mir immer meine Orangen für meinen Orangensaft kaufe. Es bleibt mir insbesondere ein Aspekt im Sinn, der zum Ende des Stückes auf einer Leinwand erscheint. „Wir spielen hier nur Theater. Aber wir müssen endlich zu Handelnden werden. Lasst uns anfangen!“ Und das gilt ebenso für politische Einflussnahmen aus Ländern, die zu hier vorherrschenden Lebensstilen doch gar keine Bezugspunkte haben, als auch für verquere Vorurteile, die im Endeffekt nur Vorurteile sind und den Menschen dahinter in den meisten Fällen außer Acht lassen. Denn „Heimat ist ein Gefühl, und kein Land.“
Fotos: David Baltzer