Proteste weltweit. Und in Deutschland?

18. Oktober 2021. In Chile gehen Tausende Menschen auf die Straße um den zweiten Jahrestag der sogenannten „Estallido Social“-Proteste zu feiern. Sie demonstrieren im ganzen Land gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, gegen einen ausufernden Wohnungsmarkt, gegen ein ausbeuterisches Privatisierungssystem. Sie demonstrieren gegen Korruption. In Deutschland gehen die Menschen derweil gegen eine vermeintliche Diktatur auf die Straße, sie wehren sich krampfhaft gegen Impfzwänge und diskutieren über Gendersternchen, als hinge ihr Leben davon ab. Währenddessen wird ein korrupter Kanzlerkandidat einer sozialdemokratischen Partei an die Macht gewählt, viele Menschen können sich in ihren Heimatstädten keine Wohnungen mehr leisten und ziehen in die Umlande und junge Menschen, die sich engagieren, werden nach Strich und Faden diskreditiert. Kann Deutschland noch Protest? Will es das überhaupt?

„LET’S SING ANOTHER SONG! – PROTEST!“ Das Lied eines anderen Liedes – eine schöne Beschreibung der Produktion, die derzeit im Freien Werkstatt Theater läuft und die vom Kollektiv „POLAR PUBLIK“ initiiert und performt wird. Die Inszenierung spielt nämlich zweifelsohne eine andere Tonart an, mit einem starken Fokus auf eure ganz persönliche Teilhabe. Sprachlosigkeit, Unwillen, Mutlosigkeit – nur selten hat eine Theaterinszenierung euch so herausgefordert, wie es „LET’S SING ANOTHER SONG! – PROTEST!“ vermag. Wer ist bereit aufzustehen? Welchen Mut erfordert das überhaupt? Und wie steht es um den eigenen Protestwillen?

Herausfordernd über drei Stunden

Aufgebaut ist die Inszenierung in Form eines etwa drei Stunden dauernden Parcours, in dem ihr auf unterschiedlichste Arten mit dem Thema des Protestes in Kontakt tretet. Werdet selbst aktiv und kommt in den Austausch mit anderen Gästen, entweder im Rahmen einer der vielen einzelnen Stationen oder in einem Workshop, der eure Kommunikationsfähigkeiten auf die Probe stellt. Kunstvoll spielt ihr ein tonloses Klavier und komponiert euren eigenen Protestsong, nehmt gesagte Wörter wieder zurück (Wer wollte das noch nie?!), lernt den kritischen Umgang mit eurer eigenen Meinung oder lehnt euch passiv einfach in einer der Performances zurück und reflektiert munter vor euch her. Vorausgesetzt, ihr habt Lust und seid in der Laune, euch darauf einzulassen.

Ja, das alles macht Spaß und fordert teilweise ganz gut heraus, das ganze Rundumpaket gibt neue Denkanstöße mit auf den Weg und fordert zwangsläufig die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung. Die Performances sind alle auf den Punkt, in allen denkbaren Auswüchsen, jede von ihnen wählt eine eigene Herangehensweise an das Thema des Abends und sorgt somit für eine durchaus abwechslungsreiche Konfrontation mit aktuellen Geschehnissen und Diskursen.

Ein toller Abend mit Abstrichen

Allerdings hätte der komplette Abend noch ein wenig Feinschliff gebrauchen können. So widmet sich beispielsweise der Kommunikations-Workshop nicht der notwendigen Suche nach Möglichkeiten friedvoller Konfliktkommunikation, sondern er spult einfach nur Kommunikationsgrundlagen ab – die sicherlich hilfreich sind im Protesttralala, allerdings bietet der Workshop dadurch zu wenig für das Thema, dessen sich die Produktion von Grund auf angenommen hat.

Die einzelnen zur Partizipation ermutigenden Stationen bieten dahingehend zwar eine Fülle an Möglichkeiten, sich mit eigenen und fremden Protestpotential zu beschäftigen, doch fehlte, zumindest am Abend meines Besuches, der Anreiz sich uneingeschränkt daran auszuprobieren und in Diskurs zu treten. Hier hätte das Team mit einer delegierenden Handhabe die Anwesenden durchaus besser zusammenbringen können. Denn im Rahmen eines dreistündigen Events aus sich herauszutreten und den Mut aufzubringen, eine Meinung zu vertreten, die nicht zwangsläufig dem Mainstream folgt und die Konfliktpotential birgt, in einem grundsätzlich friedlichen Ambiente gegenüber teilweise wildfremden Personen, ist mit Sicherheit nicht einfach und benötigt letztlich ein gewisses Maß an Anweisungen und Organisation von Außen.

Hier hätte das Team durchaus anpacken können, um einen flüssigeren Flow in das Geschehen bringen zu können. Im Großen und Ganzen jedoch zeigt „LET’S SING ANOTHER SONG! – PROTEST!“ allemal, dass sich mit dem Thema des Protestes divergent und unterhaltsam arbeiten lässt – für einzelne Gruppen als auch für das Ich an sich. Denn die Bereitschaft für etwas einzustehen, sollte sie nicht zuerst bei einem selbst beginnen, bevor man sich von äußeren Faktoren beeinflussen lässt? Hier den Mittelweg zu finden und genau daraus Aktivität und Mut zu schöpfen, ist das nicht erst der erste Schritt, um eigenes Verhalten überhaupt erst einmal reflektieren und in eine andere Richtung lenken zu können?

Endfazit? Einfach ein abwechslungsreicher und herausfordernder Abend, dem hier und da ein bisschen mehr Sein nicht geschadet hätte.

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Fotos: Julia Franken

Zeiten:

13. November 2021:
17:00 Uhr

14. November 2021:
18:00 Uhr

Preise:

Eintritt: 20,90 €
Ermäßigt: 13,20 €

Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung: 

Freies Werkstatt Theater Köln e.V.
Adresse: 
Zugweg 10, 50677 Köln
Kartentelefon:
0221 – 32 78 17
Webseite: https://www.fwt-koeln.de/veranstaltung/lets-sing-another-song-protest-20211113
KVB:
Linien 15, 16, 17: Chlodwigplatz

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