Kritische Bestandsaufnahme der närrischen Seele

Vor 200 Jahren ging der erste Rosenmontagszug durch Köln. Grund genug für Brauchtumsexpertin Monika Salchert, diesen Geburtstag mit einem umfassenden Buch über Geschichte und Zukunft dieses närrischen Ausbruchs der kölschen Seele zu feiern. „Kölner Karneval seit 1823“ – faktenreich und mit viel Engagement geschrieben – kann nicht verbergen, dass die Kölner TV- und Print-Journalistin ein 100prozentiger Fan ist, der sich aber auch kritischen Tönen nicht verweigert.

In neun Kapiteln breitet sie verschiedene Aspekte des hiesigen närrischen Treibens aus. Eingeleitet werden sie jeweils – ein wunderbare Idee – mit den Fotos von zehn bekannten Fotografinnen und Fotografen. Mit August Sander gibt’s da einen Rückblick in die 1920er und 1930er Jahre. Nina Gschlößl hat die großen und kleinen Zuschauer des bunten närrischen Treibens im Blick. Robert Lebeck macht dasselbe in Schwarz-Weiß und Boris Becker fotografiert jecke Devotionalien. Nicht zu vergessen Chargesheimer oder Claudia Kroth.

Karneval im historischen Kontext betrachtet

Die Stärke dieses Buches ist es, Karneval nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert jeweils in seinem historischen Kontext zu betrachten. So spart sie auch die antisemitischen und kolonialistischen Aspekte nicht aus, wobei erstere in der Geschichtsaufarbeitung inzwischen kein Tabu mehr sind. Die Auseinandersetzung mit letzteren dagegen vermisst die Autorin und fordert ein entsprechendes Engagement.

Oswald Kettenberger (1927-2020) begleitete vor allem in den 1960er und 1970er Jahren mit seiner Kamera den Kölner Karneval – hier war er vor dem Kölner Dom dabei.

Dagegen lobt die Autorin lobt zu Recht das soziale und ehrenamtliche Engagement der Karnevalisten oder deren Einsatz für den Erhalt der mittelalterlichen Stadtmauerreste. Ausführlich beschreibt sie die wirtschaftliche Bedeutung der „5. Jahreszeit“.

Karneval – für Frauen eine geschlossene Gesellschaft

An einigen Stellen sieht sie Karneval allerdings zu sehr durch die rosarote Brille. Etwa wenn sie dem Karneval eine grundsätzliche Fähigkeit zur Integration zugesteht. Dem widerspricht sie sich selber, wenn sie etwa sehr ausführlich und gründlich die lange Ausgrenzung von Frauen aus dem organisierten Karneval beschreibt, den man zeitweise sogar frauenfeindlich nennen kann.

Nina Gschlößl (geb. 1985) dokumentierte das närrische Treiben beim „Friedens-Rosenmontagszug“ 2022.

Auch mit der Integration von „Ausländern“ oder LGBT-Menschen tat sich der organisierte Karneval schwer. Die lesbische „Schnittchensitzung“, „Röschen Sitzung“ oder „Immisitzung“ entstanden, weil deren Initiatoren sich und ihre Mitstreiter vom offiziellen Karneval ausgegliedert sahen – sei es wegen der lange gesellschaftlich „normalen“ Homophobie oder der Geringschätzung gegenüber „Gastarbeitern“.

Hier der offizielle, dort der alternative Karneval

Auch „Stunksitzung“, „Fatal banal“ sowie der Geisterzug entstanden als Alternative zu eingefahrenen, überkommenen Karnevalsritualen und laufen bis heute unter dem Etikett „alternativer Karneval“. Letztere griffen vor allem die fehlende politische Einmischung der Karnevalisten auf, die sich selber gerne mit der Aura des Hofnarren umgeben. Eine Ktitikfreude und Aufmüpfigkeit, die auch Salchert zum Beispiel bei den Büttenreden vermisst, die immer mehr in Comedy abrutsche.

Karneval im Schatten des Doms auf dem Roncalliplatz – fotografiert von Oswald Kettenberger

Zumindest diskussionswürdig ist Salcherts Verständnis von Karneval als einem „Volksfest, das sich nicht reglementieren lässt“. Wenn man dem zustimmt, braucht es keinen runden Tisch mehr, um die Sauf-, Piss- und Kackexzesse am 11.11. und an Weiberfastnacht rund um die Zülpicher auf ein erträgliches Maße zu bringen.

Wie Karneval zeitgemäßer und besser werden könnte

Karneval – so Salcherts Fazit – sah immer im Lauf seiner Geschichte anders aus, hat sich immer mehr oder weniger dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld angepasst. Er ist kein für auf alle Zeiten unveränderliches Endprodukt, sondern muss sich entwickeln, um auch künftig die „kölsche Seele“ in ihrer Gesamtheit widerzuspiegeln.

Ein Roter Funke beim Rosenmontagszug 2022. Foto: Nina Gschlößl

Dafür fordert sie in ihrem Resumee zum Beispiel mehr Augenmark für Studenten und Jugend, vor allem aber mehr Beteiligung von Frauen. Prinz, Bauer und Jungfrau im Dreigestirn spielen Rollen – und die können auch von Frauen übernommen werden, sagt sie. Weiter wünscht sie unter anderem weniger Kommerz, weniger Rekordstreben, auch weniger Müll. Dafür mehr Mut, mehr Ideen oder mehr Blödsinn.

Mehr Stellungnahmen zum politischen Tagesgeschehen

Sie wünscht sich mehr politische Stellungnahme zum politischen Tagesgeschehen, verweist dabei auf drei seltene Ausnahmen: die Absage des Rosenmontagszuges 1991 wegen des Golfkriegs, die Umwandlung des Rosenmontagszuges 2022 nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, schließlich im April 2017 – außerhalb der Session! – der Aufruf des Festkomitees zu einer Kundgebung gegen den Parteitag der AfD.

Zusammengefasst: Karneval ist nie „fertig“. Wie auch ihr Buch, dem – mit voller Absicht – der schützende Rücken fehlt.

Monika Salcher: „Kölner Karneval seit 1823“ – Greven Verlag, Köln 2023. Hardcover, Fadenheftung, 248 Seiten, 36 Euro

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