Arthur Schnitzlers „Reigen“ im Produktionsfieber

Es ist kalt in der Straßenbahn, die gleich einem Hochgeschwindigkeitszug durch eine Kurve brettert.  Fast falle ich auf eine Frau, die ein Kleinkind in einem Tragetuch vor ihrem Bauch liebevoll hütet. Puh, gerade nochmal gut gegangen, denke ich mir, das hätte schnell schief gehen können. Unaufmerksam sein, das kann ich gut, schießt es mir in den Kopf, und stehend während der Bahnfahrt ein Buch zu lesen ist vielleicht nicht die beste Idee. Ich klappe das Buch zu, der letzte Satz auf Seite 181 schwirrt vor meinem geistigen Auge auf und ab, dieser Satz, der der Tragödie in Christian Knulls Ensembleroman „Wir probten die Liebe“ den passenden Abschluss schenkt. Ich schmecke ihn förmlich. Vor allem, weil er mich geschmacklos zurücklässt nach der Lektüre eines Buches, das nur auf den letzten Metern Fahrt aufnimmt und eine Tragödie in sich trägt, die jede Spannung vermissen lässt.

Wenige Minuten später, zu Hause, lege ich das Buch auf den Küchentisch und ich bin mir nicht sicher, wie ich diese Rezension überhaupt angehen soll. Von einem Roman über ein Theaterensemble, das Arthur Schnitzlers lange Zeit umstrittenes Stück „Reigen“ inszeniert, inklusive aller Proben und Vorbesprechungen, habe ich mir mehr erwartet. Skandale, Grenzüberschreitungen, Sex. Ein Sticheln, das die Sehnsucht nach Sünde in mir aufflammen lässt, ein Stechen oder jedwede sonstige Emotion, die mir mein eigenes Verlangen auf einem Silbertablett offenlegt, mich hinterfragen lässt.

Zwölf Geschichten aus Sicht der handelnden Personen

Stattdessen: Größtenteils Leere. Leider hat es der Roman nur in wenigen Augenblicken geschafft, überhaupt eine Emotion in mir zu entfachen – und das bei den Fantasien, die Schnitzlers „Reigen“ in mir weckt. Ähnlich der Vorlage hangelt sich das Buch von Situation zu Situation, dabei konzentriert es sich auf die Gefühls- und Gedankenwelt der einzelnen Ensemblemitglieder, inklusive Regisseur und Regieassistentin.  Zwölf Kapitel begleiten die zwölf Protagonistinnen und Protagonisten hautnah durch den Entstehungsprozess der im Buch behandelten Inszenierung – jeweils aus Sicht des Ich-Erzählers.

Das wäre gut, wären die Gedanken und die Handlungen, die die jeweiligen Personen auszeichnen, auf irgendeine Art und Weise kennzeichnend für die Handlung. Sind sie aber nicht. Lange Zeit kämpfe ich mit dem Verlangen das Buch einfach zur Seite zu legen, aber ich will es unbedingt zu Ende lesen. Die einzelnen Geschichten fesseln mich dabei weder, noch wecken sie in mir das Interesse, mehr über die einzelnen Personen kennenlernen zu wollen. Oftmals langwierige Gedankenwelten zerstören mir immer wieder einzelne Szenen, die meine Aufmerksamkeitsspanne kurzzeitig emporsteigen lassen. Aber Zack, schnurstracks fährt sie wieder runter, weil eine Protagonistin über die Größe der Hautfläche von anderen Menschen sinniert oder weil das homosexuelle Ensemblemitglied einfach keinen wirklichen Charakter hat und ich mich wieder Seite für Seite vorkämpfen muss.

Ein Roman mit vielen Umwegen

Sicher, so läuft das in etwa auch in der Realität ab: Menschen haben Charakter oder eben nicht, aber in einer fiktionalen Erzählung funktioniert das nicht – vor allem nicht, wenn die einzelnen Handlungsstränge auf den Leben und den Gedanken der jeweiligen Personen aufbauen und diese dann auch die Geschichte auf über 180 Seiten tragen sollen.

Traurig, dass sich diese langatmige Erzählweise fast durch das gesamte Buch zieht – bis es zur Premiere der Produktion „Reigen“ kommt, dauert es lange, was ja auch okay ist, sie kommt erst zum Schluss, aber der Erzählfluss führt mich nur über Umwege zu ihr; Umwege, die ich, wie ich merke, nur ungern gehe. Komisch vor allem das Ende, das durch einzelne Gedanken angeteasert und geradezu gespoilert wird, das aber sowohl in den Köpfen der Protagonistinnen als auch in meinem eigenen Kopf keinerlei Emotionen hervorruft. Was zum Teufel?, frage ich mich. Wieso kümmert das augenscheinlich niemanden? Die dürftigen Erklärungen, die durch die Dialoge fallen, reichen mir nicht, ergeben zudem keinen Sinn. Es sei denn, es war von vornherein die Absicht, Kälte zu transportieren. Das hätte dann wiederum gut funktioniert…

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Fotos: Eindrücke aus Christian Knulls „Wir probten die Liebe“

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Informationen:

„Wir probten die Liebe“
Autor: Christian Knull
Seiten: 182 Seiten
Köln, 2020

Preis:

Taschenbuch: 12,00 €
Kindle-Version: 8,99 €

Verlag: 

KUUUK Verlag und Medien Klaus Jans
Adresse: Cäsariusstr. 91 A, 53639 Königswinter bei Bonn

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