
Musiklehrerin Barbara Stölzl (Fiona Metscher) will dem unteririschen Empfangskomitee (Mario Neumann, l., und Henning Nierstenhöfer) nicht glauben, dass sie tot ist. – Foto: Laura Thomas / TiB
Wenn Käfer die Erinnerung an Tote wachhalten
Wenn Käfer eine menschliche Leichen fressen, übernehmen sie die Persönlichkeit des Toten (natürlich auch der Toten). Und wenn sie wiederum von Menschen gegessen werden, kann der sich wieder an den Verstorbenen erinnern, wird sogar zu dieser Person. Eine ebenso skurrile wie faszinierende Idee über Erinnerungskultur – Clemens Mädge hat daraus sein Theaterstück „Von Käfern und Menschen“ gemacht, dessen Uraufführung jetzt im Theater im Bauturm unter der Regie von Kathrin Mayr vom Premierenpublikum gefeiert wurde.
Eine dunkle Bühne, von oben hängen leicht transparente braune Stoffbahnen, sie lassen an Baumwurzeln denken (Ausstattung: Dirk Traufelder und Laura Wallrafen). Über eine Projektion wachsen fahl-weiße Pilze in den Raum. Plötzlich ist eine Totenrede zu hören, mit lobenden Worten wird der Musiklehrerein Barbara Stölzl (mireißend verzweifelt und besserwisserisch, nicht nur Dank Käferkonsum: Fiona Metscher) gedacht. Die Radfahrerin ist durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen.
Himmel? Hölle? Einfach unter der Erde!
Nun landet sie leichenblass auf der Bühne des Theaters. Weiß nicht, wo sie ist. Kann sich nur mit Mühe an die letzten Minuten ihres Lebens erinnern. Realisiert nicht, dass sie tot ist. Nur mühsam können ihr das zwei Männer erklären, das Empfangskomitee der Unterwelt. Enttäuschend auch deren Auskunft, dass es zwar nicht die Hölle sei, in der man sich befinde, aber eben auch nicht der Himmel.

Der preußische Gardist (Mario Neumann) erfährt von der Musiklehrerin (Fiona Metscher), dass er nicht im Kampf gegen Napoleon gefallen ist. – Foto: Laura Thomas / TiB
Zottel hängen an ihnen ab wie abgestorbene Hautfetzen, sie sind schließlich auch schon länger hier unten. Zum einen Otto (immer wieder Schwachstellen findend: Henning Neumann, dazu noch meisterlich an Keyboard und Tuba) starb, als er mit seiner Familie im 4. Jahrhundert vor den Hunnen floh. Zum anderen Friedrich Wilhelm August Schmitt (im eigenen Erinnerungskult verfangen: Mario Neumann), preußischer Gardist, 1806 im Einsatz gegen Napoleon.
Dank Aasfressern über moderne Entwicklungen informiert
Sie kümmern sich um die Neuen und bewahren die Kiste mit den Käfern, die durch ihren Verzehr das Wissen um die Toten in sich bewahren. Weil die beiden manchmal auch Käfer von Toten aus der jüngsten Vergangenheit verspeisen, sind sie über die irdische Gegenwart und technische Fortschritte recht passabel informiert.
Was nicht heißt, dass der Neuankömmling sie nicht verbessert. Darunter leidet vor allem der Gardist. Der ist in seiner Erinnerung ein Soldat, der bei Auerstedt im Angesicht Napoleons den Heldentod starb. Doch der Franzosenkaiser war nicht in Auerstedt, sondern Jena. Und Todesursache war Ungeschicklichkeit beim Exerzieren vor der Schlacht. Weshalb der Gardist auch in einem Massengrab landete und es kein Denkmal für ihn gibt.
Vielfältige Blicke auf unsere Erinnerungskultur
Erinnerung ist eben eine komplizierte Sache – sei es an die Vergangenheit anderer oder die eigene (hier sei – eine persönliche Anmerkung – auf die aktuelle Causa Aiwanger verwiesen. Die Bauturm-Führung verweist auf den aktuellen 40. Geburtstag ihres Theaters. Auch das ja ein Anlass für viele „Weißt Du noch…“). Immer wieder werden wissenschaftliche und alltägliche Erkenntnisse über Erinnern und Vergessen von Psychologen, Museumsleuten, Archäologen und einer Bestatterin eingeblendet. Auch eine Expertin über Verwesungsprozesse kommt zu Wort.

Otto (Henning Nierstenhöfer, vorne) lebt schon seit fast 1.600 Jahren im Totenreich. – Foto: Laura Thomas / TiB
Der immer wieder befürchtete Einsatz der „großen Schaufel“ macht der Diskussion ein vorläufiges Ende: Ein griffbereiter Schaufelbagger wird auf den Hintergrund projiziert und verjagt das Trio von der Bühne – Assoziationen zu den großen Braunkohlebaggern? Schließlich werden auch dort im Tagebau Erinnerungen zerstört, klagen Archäologen.
Das Trio taucht wieder auf. Offenbar ist viel Zeit seit dem Schaufelangriff vergangen, denn nun hängen auch an Barbara Stölzl lange Zottel. Es wird noch einmal über verschiedene Erinnerungen diskutiert. Und wo ist eigentlich der Napeoleon-Käfer? Dann wird das Publikum nach 90 Minuten anregendem Spiel und langem Premierenbeifall entlassen. Das kann auf dem Nachhauseweg trefflich darüber diskutieren, wie es andere in Erinnerung behalten hat und wie es selber erinnert werden will.
„Von Käfern und Menschen“
Die nächsten Vorstellungen: 24. September 2023 (18 Uhr), 14. Oktober (21.30 Uhr), 15. Oktober (18 Uhr), 27. Oktober (20 Uhr)
Theater im Bauturm, Aachener Str. 24-26, 50674 Köln, http://www.theater-im-bauturm.de, Karten: Tel. 0221 / 52 42 42, Tickettelefon: 0221 / 52 42 42, Ticketreservierung: tickets@theaterimbauturm.de, www.theaterimbauturm.de