Der Tod und die Wiener – das ist eine ganz besondere morbide Beziehung. Dazu gehört auch der grundsätzliche Zweifel am Sinn des Lebens. Das hat auch den Wiener Journalisten André Müller geprägt. Aus den Interviews des „Gesprächskünstlers“ mit den Promis seiner Zeit hat Emanuel Tandler für das Theater der Keller das Stück „Das süße Verzweifeln“ geschrieben und inszeniert: 90 beeindruckende Minuten, die lange nachwirken.
Wie kann man den Tag ertragen, ohne wahnsinnig werden zu müssen?
Wie geht man – und frau – mit Selbstmordgedanken um? Wie lässt sich Verzweiflung beherrschen, wie die Dämonen in Kopf und Seele? Hilft Gelächter als Waffe, gibt es Erholung im Hass? Wohin mit der Angst, was ist Liebe? Es sind solche Fragen, die der renommierte Journalist Müller (1946-2001) seinen Interviewpartnern stellte – das reicht hier exemplarisch von Hanna Schygulla über Thomas Bernhard, Hildegard Knef und Harald Schmidt bis FC-Torwart Toni Schumacher. Und er fragte sehr persönlich nach, ließ ihnen keine Möglichkeit, den Antworten auszuweichen, schonte auch sich selber nicht.
Im Hintergrund tanzen die Skelette
Tandler zitiert aus diesen veröffentlichten Gesprächen und setzt sie mit Susanne Seuffert, Philipp Sebastian, Melanie Lüninghöner und Matthias Lühn in wechselnden Rollen in Szene. Hinzu kommt Laura Sundermann als Alice Schwarzer. Sie kommt „nur“ als Film vor, der parallel im Hintergrund abläuft. Drohen unbeantwortete Nachfragen, zerlegen sich auf der Leinwand gezeichnete Skelette beim Totentanz.
Höchst diszipliniert und bestens aufeinander eingespielt bewegt sich das Quartett auf fast kahler Bühne (Bühne und Kostüme: Lara Hohmann). Es liefert eine verzweifelte Schreiorgie. Hüllt sich zum Schutz in ein Dickicht aus Tonbändern. Steckt in engen, durchsichtigen Vitrinen. Sucht den Schutz der Dunkelheit und singt sehnsuchtsvoll den Simon&Garfunkel-Klassiker „The Sound of Silence“. Sitzt auf Polstern, die sich anfangs noch zu einem Fragezeichen formen.
Nur einmal wird das Publikum direkt einbezogen
Doch befreiende Antworten gibt es nicht. Ratlos stehen die Akteure vor ihrem Spiegelbild: „Kenn ich nicht. Wasch ich nicht!“ Das Leben geht weiter.
Nur einmal wird die Antwort direkt beim Publikum gesucht: „Sind Sie unglücklich?“. Doch dieser Bruch im Spiel – ein oft überflüssiger, aktueller Trend im Theater – wird hier nicht weiter ausgewälzt, dient lediglich als Appetitanreger: Die Inszenierung spricht für sich. Am Ende muss sich das Publikum (machthungrige Männer werden gezielt angesprochen) selber auf die Suche nach dem – ein großes Wort – „Sinn des Lebens“ machen. Anregungen zur Selbsthinterfragung hat es genug erhalten.
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Foto: Goetz von Vogelstein – FC-Torwart-Legende Toni Schumacher (Matthias Lühn) stellt sich mit nackter Brust den Fragen des Journalisten André Müller (Melanie Lüninghöner).
Zeiten:
29. Dezember 2021:
20:00 Uhr
28. Januar 2022:
20:00 Uhr
Preise:
Eintritt: 21,40 €
Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung:
Theater der Keller e.V.
Adresse: Siegburgerstraße 233w, 50679 Köln
Webseite: https://theater-der-keller.de/programm/das-suesse-verzweifeln
KVB: Linie 7: Poller Kirchweg