Alphabet der Verzweiflung
Rosa Luxemburg fehlt. Nicht nur in Form einer adäquaten Streiterin für den Geist der Solidarität, zu einer Zeit, in der selbst die sozialen Parteien ihre Ideale zugunsten von Macht-Taktierereien entwerten ließen. Sie fehlt als physische Besetzung auch im gleichnamigen Stück am Theater im Bauturm … doch ihre Verzweiflung lebt. In der Inszenierung von Regisseur Tom Müller schreien, flüstern, stottern, würgen, lachen und wuchten seine Darsteller Hanna Krebs, Benjamin Kühni und Paulo Queiroz ein Alphabet der Verzweiflung als revolutionären Code ins verstörte wie faszinierte Publikum. Mal als Conférenciers in einer Zirkus-Show, mal als Redner eines Nachrufs auf einer verregneten Beerdigung switchen die Protagonisten zwischen Euphorie, Melancholie und kühler Nüchternheit. Irritation und Provokation bleiben Programm in einer mutigen Aufführung, die bereits mit dem Einlass in den Theatersaal beginnt: Wohin mit dem eigenen Dasein? Welcher Weg ist richtig, welcher falsch? Links, rechts, geradeaus? Wo kann man ankommen, von welchem Platz dem Geschehen beiwohnen?
Ein bizarres Ballet des gescheiterten Willens
Die unmittelbare Interaktion mit dem Publikum bleibt in der nahezu zweistündigen Premieren-Darbietung ein wesentliches dramaturgisches Mittel und fordert Schauspieler wie Besucher, sich auf gleicher Augenhöhe zu offenbaren – freilich ohne Lösungsansätze zu liefern, denn das Endziel aller Revolutionen ist die Aufhebung der gesellschaftlichen Zustände – mithin das Ende von etwas Bestehendem. In der Natur und deren Gesetzen findet die Klassenkämpferin scheinbar lyrische Visionen für das Miteinander aller Kreaturen. In der Bühnenumsetzung kommt diese Schwärmerei einer Romantik des Wahnsinns gleich.
Wie Wasser soll sich die Vorstellung von der Einheit allen Seins ihren Weg bahnen, Steine aushöhlen, Mauern umspülen und zum Einsturz bringen, unaufhörlich fließen – Tropfen um Tropfen. Auf der Reise zum ersehnten Ziel winden sich Krebs, Kühni und Queiroz im Zorn eines von Spastiken gequälten Schöpfers, dessen Triebe tief in Herz und Glieder seiner Erden-Figuren fahren. Müller greift die chaotische Hinterlassenschaft einer fremdgebliebenen Gottheit auf und komponiert mit musikalischen sowie tänzerischen Einlagen bewusst ein bizarres Ballet des gescheiterten Willens. Dies führt letztlich in die Auslöschung ebenjenes Wollens. Rosa Luxemburg, Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, wurde nach Verhören und schweren Misshandlungen am 15. Januar 1919 von Angehörigen der Garde-Kavellerie-Schützendivision in Berlin ermordet. Ihre Leiche wurde in den Landwehrkanal geworfen und erst mehrere Monate später gefunden. Vom Strom getragen, gelangten ihre Maximen an neue Ufer und beleuchten nach wie vor die Perfektion einer zivilisatorischen Unvollkommenheit.
Unfassbare Schatten
Luxemburgs geistige Reinkarnation im Bauturm-Theater lenkt im positiven Sinn von der Protagonistin ab und skizziert die unfassbaren Schatten einer verängstigten wie stetig verführbaren Volksgemeinschaft, die Tyrannei und Ungleichheit erst möglich machen. Das Konzept des Stücks entfaltet sich mit der Verabschiedung vom erwarteten Drama beziehungsweise dessen Strukturen. Das Publikum als einbezogenes, gleichwertiges Element in einen hinkenden Kreislauf, gefüllt mit Brüchen und ungeraden Variabeln, partizipiert maßgeblich an Auflösung oder Nichtlösung einer essentiellen Welten-Gleichung. Das Stück wird spalten, denn es bietet keinen Raum für Gefälligkeiten. Mit „Rosa Luxemburg“ gelingt dem Ensemble mehr Wirklichkeit als Theater.
Fotos: Moritz Marquardt
Foto 1: Charismatischer Verführer: Benjamin Kühni lädt zur Teilhabe an einer Vision ein.
Foto 2: Langer Schlaf, kurzer Tod: Der Traum von der Gleichheit aller Menschen vereint die Geister der Vergangenheit und Gegenwart.
Termine:
12. März 2020:
20:00 Uhr
13. März 2020:
20:00 Uhr
19. März 2020:
20:00 Uhr
20. März 2020:
20:00 Uhr
6. April 2020:
20:00 Uhr
7. April 2020:
20:00 Uhr
8. April 2020:
20:00 Uhr
Preise:
Eintritt: 23,10 €*
*inkl. VVK-Gebühren
Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung:
Theater im Bauturm
Adresse: Aachener Straße 24-26, 50667 Köln
Telefon: 0221 – 52 42 42
Webseite: www.theater-im-bauturm.de/programm/rosa-luxemburg
KVB: Linien 1, 7, 12, 15: Rudolfplatz