Multipolares Festival findet online statt
Mit nur 32 Jahren die künstlerische Leitung eines internationalen Theaterfestivals zu übernehmen, schien für Anna-Mareen Henke nicht genug zu sein. Nein. Warum nicht zusätzlich noch das ganze Festival einmal auf eine komplett andere Art veranstalten? Im Internetkosmos zum Beispiel. Denn Corona-bedingt findet das Sommerblut-Festival dieses Jahr größtenteils im Internet statt und unternimmt so den Versuch, Online-Theater so partizipativ und empathisch wie möglich zu gestalten.
Deutschlandweit fallen Festivals aus und nur die wenigsten davon können auf eine Verschiebung oder gar auf eine anderweitige Umsetzung hoffen. Und dass Online-Theater beizeiten schwierig ist, das hat sich in den letzten Wochen immer wieder gezeigt. Für die Organisatoren des Sommerblut-Festivals dennoch kein Grund, das Festival komplett abzusagen. „Wir haben uns schon sehr früh entschieden, das Festival dennoch abzuhalten“, erklärt Anna-Mareen. „Auch, weil wir insbesondere die Künstlerinnen und Künstler und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht vor eine Absage stellen wollten. Vor allem im Rahmen unserer Eigenproduktionen hatten wir die Möglichkeit, andere Darstellungsformen zu wählen.“ So senden die Veranstalter die Aufführungen nun per Streams um die ganze Welt. Das bedeutet für ein von partizipativen und inklusiven Momenten lebendes Festival eine Umgewöhnung – nicht nur für die Gäste.
Partizipation auch im Internet ein wichtiger Faktor
„Wie gestaltet man als Gastgeber eine – oder gleich mehrere – Theateraufführungen, die den Betrachter von zu Hause aus fesseln?“, fragte sich die künstlerische Leitung während der Vorbereitung. Ziel der Leitung des Festivals sei es, den immer schon wichtigen partizipativen Faktor des Sommerbluts auch im Online-Geschehen beizubehalten und die Zuschauer so zum Teilhaben und gemeinsamen Erleben zu animieren. „Die Künstlerinnen und Künstler haben sich zum Proben in virtuelle Räume begeben, neue Ideen entwickelt und mit viel Kreativität und Sensibilität ihre Projekte umgestaltet.“ Dabei herausgekommen seien Aufführungen, die auch weiterhin auf die Beteiligung der Zuschauer zugeschnitten sind und bei denen ihr euch fühlt, als wärt ihr mittendrin.
Beim Projekt „Damengedeck 2.0“ zum Beispiel nehmt ihr nun an einer Zoom Konferenz teil – anstatt auf einem Rundgang durch die Seniorenresidenz am Dom einer Vielzahl von unterschiedlichen Performances beizuwohnen. Dabei versucht die Aufführung jetzt – mit den verfügbaren Mitteln – ein Theatergefühl zu vermitteln, das so real wie möglich ist. Ihr kauft euch online Tickets, seid dazu angehalten euch „schick zu kleiden“ und bekommt gar ein Kehrpaket mit Getränken und Knabbereien nach Hause geschickt – um das Theaterempfinden direkt in euer Wohnzimmer zu transportieren. „Eigentlich hätten die Besucher mehrere Stationen in der Residenz abgelaufen, an denen die Bewohnerinnen einzelne Performances abgeliefert hätten. Auf diesen Live-Charakter wollten wir nur ungern verzichten.“ Dass die Bewohnerinnen der Residenz mit ihren 70 bis 90 Jahren selbst als Risikopatienten während der Corona-Krise gelten, verleiht der Inszenierung darüber hinaus den aktuellen Anstrich, für den das Sommerblut-Festival seit jeher bekannt ist. Der multipolare und gesellschaftskritische Ansatz bleibt also auch in der Online-Welt des Festivals nicht außen vor.
Die Welt durch die Augen anderer sehen
Das zeigt auch der Talk „A Mile in My Shoes“. Im Gespräch mit Kulturjournalistin Dorothea Marcus spricht die Londoner Künstlerin Clare Patey über das Potenzial von empathischen Transformationsprozessen, die auf uns alle wirken und die unser gemeinschaftliches Zusammenleben auf Dauer bereichern könnten. Der ursprüngliche Plan war, dass die Besucher in 30 Schuhpaare schlüpfen und auf einem Spaziergang durch Köln den Geschichten fremder Menschen lauschen, die über Kopfhörer an sie herangetragen werden. Die Rundgänge fallen jetzt zwar aus, die Geschichten sind dennoch auf der Webseite des Festivals erfahrbar. „Der Gedanke dahinter ist, selbst Empathie zu erproben und die Welt aus den Augen eines fremden Menschen zu sehen“, sagt Anna-Mareen, „zu zeigen: Welche anderen Perspektiven gibt es noch? Und kann ich mich damit anfreunden bzw. geben sie mir zusätzliche Denkanstöße?“
Die Aktualität derzeitiger gesellschaftlicher Anwandlungen wird besonders bei der Jugendtheater-Produktion „14,2 x 5,5 x 3,4“ deutlich. Im Rahmen eines Solo-Audiowalks – hier seid ihr mal offline und in der echten Welt unterwegs – lauscht ihr den Geschichten junger Menschen, die sich aufgrund der Pandemie mit sich selbst beschäftigen müssen und die nicht vor die Türe dürfen. Was passiert mit einem Menschen, wenn er auf engstem Raum sich selbst ausgesetzt ist? Wird er verrückt? Oder birgt der beengte Raum gar ungeahnte Möglichkeiten? Um Kontakte weitgehend zu vermeiden, bittet das Organisatorenteam um eine Anmeldung, die unter anderem über Doodle abgeschickt werden kann. Der Startpunkt ist vor der Alten Feuerwache in der Melchiorstraße.
Also alles wie gehabt beim Sommerblut-Festival. Gesellschaftliche Relevanz, nur in einer völlig neuen Aufmachung. Und immer mit dem Ziel, das Menschliche zu fördern und dort Verständnis zu generieren, wo sie beizeiten Gefahr läuft, aus der subjektiven und kollektiven Wahrnehmung zu entgleiten…
Foto1: Nathan Dreessen – Furcht und Normalität in Zeiten der AfD
Foto2: Nathan Dreessen – Damengedeck 2.0
Zeiten:
noch bis zum 24. Mai 2020
Preise:
Überwiegend kostenlos
Nur die Produktion „Damengedeck 2.0.“ kostet „Eintritt“, aber sie ist leider schon ausverkauft
Wo finde ich das?
Webseite: www.sommerblut.de
Dringeblieben: www.dringeblieben.de
Link zum Programm:
Programm unter: www.sommerblut.de/programm
Kontaktdaten:
Sommerblut Kulturfestival e.V.
Telefon: 0221 – 29 49 91 34
Webseite: www.sommerblut.de