Von der Ansichtskarte zum Aufkleber

Kennen Sie eigentlich noch „Ansichtskarten“ – die Messenger-Dienste aus vordigitalen Zeiten? Einfache Pappkarten im DIN-Format. Auf der Rückseite ein Foto, auf der Vorderseite eine Textnachricht. Oben rechts aufgeklebt eine Briefmarke. Schaut man sich heute alte Ansichtskarten an, schwankt man zwischen Faszination und Irritation über die Vielfalt, Originalität oder vielleicht auch der Einfalt von Motiv und Text. Dabei befinden sich unter ihnen zahllose kleine Kunstwerke, die einiges über den Geist der Zeit ihres Versands (per Post oder berittenem Boten) verraten.

Als solche sind sie Vorreiter der „Sticker-Art“, von der hier die Rede ist. Heute werden in Briefkästen immer weniger Ansichtskarten geworfen – digitale Nachrichten sind doch etwas schneller und dabei auch noch portofrei (und kosten höchstens Nerven). Dafür dienen diese gelben Blechkästen immer häufiger als Leinwände für aufgeklebte Klein-Kunstwerke. Aber nicht nur dort – mittlerweile nahezu überall wo man etwas aufkleben kann, findet man sogenannte „Sticker“, zu Deutsch „Aufkleber“, die den Betrachtenden genauso wie bei den Ansichtskarten schwanken lassen zwischen Faszination und Irritation über die Vielfalt, Originalität oder vielleicht auch der Einfalt von Motiv und Text.

Beiden gemein ist außerdem die Abkehr vom Digitalisierungswahn und die Hinwendung zur Entschleunigung. Aufkleber spiegeln auf ihre Weise den Geist der Zeit ihres „Aufklebens“ wieder. Sie tun dies auf eine erfrischend direkte, unmittelbare und freie Art. Der englischsprachige Begriff „Sticker“ deutet darauf hin, dass diese Kunstform sich international und als Teil der „Streetart“ versteht. Damit ist sie ein Zeichen für Weltoffenheit und stellt bzw. klebt sich gegen die museale Einfältigkeit mancher Großstädte. Sie ist öffentlich und bewegt sich dabei irgendwo zwischen Anonymität und Selbstdarstellung, Idealismus und Werbung, Selfmade und Massenproduktion. Sie lebt in einer Art halblegalen Zwischenwelt, ist tabulos, politisch inkorrekt, oft anarchisch und einfach nur wohltuend bunt. Viele Aufkleber sind sehr liebevoll und aufwändig gestaltet.

Damit verdienen es diese klebrigen Klein-Kunstwerke, dass man sich mit ihnen näher beschäftigt, sie besucht, dabei genau anschaut und sie nicht gleich als Schmuddelei oder Sachbeschädigung abtut. Ob man sich danach dann Hals über Kopf in sie verliebt oder nicht, bleibt jedem dann selbst überlassen. Dazu ist Köln als aufgeschlossene Stadt und „Aufkleber-Hochburg“ geradezu ideal geeignet.

Zum Kennenlernen empfiehlt sich z. B. ein Streifzug durchs Univiertel, dem „Quartier Latin“, oder den einschlägigen Streetart – Vierteln in Ehrenfeld wie dem Heliosgelände. Diese „Hotspots“ der Kölner „Sticker-Art“ und noch weitere sowie deren Spielarten, kulturellen und technischen Hintergründe sollen an dieser Stelle demnächst im Detail vorgestellt werden.

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Alle, die in der Zwischenzeit originelle Exemplare gefunden oder eigene Lieblings-Aufkleber oder Standorte entdeckt haben und melden möchten, können sich gerne mit dem Autor unter Sticker@Wetterpilze.de oder der Redaktion in Verbindung setzen.

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Foto 1: Klaus Herda – Stickerwand am Rheinufer, Deutzer Seite.
Foto 2: Klaus Herda – Eine Ansichtskarte als Sticker. 
Foto 3: Klaus Herda – „Black Lives Matter“-Sticker, gefunden im Univiertel.
Fotos in der Galerie: Klaus Herda

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