Bedrückend. Heftig. Gut.
„Wir sind eine Klasse!“ – aus dem anfänglichen Freudenschrei wird im Laufe zweier Jahrzehnte eine Beschwörungsformel, mit der alles gegenseitige Unrecht – und davon gab es jede Menge – zugekleistert werden soll. Das Theaterstück hat einen historischen Hintergrund: die Ermordung von 1.600 Juden im polnischen Städtchen Jedwabne 1941. Jetzt hatte es Premiere in Köln – und nach gut 140 bedrückenden Minuten erntete das voll engagierte Ensemble im Gymnasium an der Kreuzgasse den verdienten langen Beifall.
Das Geschehen im Jahr 1941 ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte Polens und war lange ein Tabu. Denn nicht die deutschen Besatzer waren es wie lange offiziell behauptet, die die Juden in einer Scheune verbrannten. Katholische Polen taten das ihren Nachbarn an, mit denen sie zuvor lange friedlich zusammengelebt hatten. Erst 2001 wurde ein Denkmal eingeweiht, das die wahren Schuldigen dieses Verbrechens benannte.
Ein Theaterstück vor historischem Hintergrund
Autor Tadeusz Slobodzianek – er war bei der Premiere anwesend – rekonstruierte das Leben von sieben Schülern und drei Schülerinnen, die zu Beginn der 1930er Jahre zusammen eine Schulklasse besuchten. Sie hielten zusammen, tanzten und sangen, durchlebten die Pubertät mit ersten Liebeleien, hatten Traumberufe und waren stolz darauf, polnisch zu sein. Und singen auch Jahre später noch gemeinsam die Nationalhymne.
Es beginnt eine verwickelte Geschichte in 14 Lektionen mit vielen Wendungen, in der die einen konsequent und offen Haltung zeigen, andere zu Opportunisten werden, und nur Ausnahmen im Verborgenen unter Einsatz des eigenen Lebens den Verfolgten helfen. Einer heiratet seine jüdische Mitschülerin, die dafür zum Katholizismus übertritt. Eine junge Frau versteckt ihren jüdischen Mitschüler – um ihn nicht zu verraten, lässt sie sich von einem anderen vergewaltigen. Selbst vor der politischen Ermordung ehemaligen Klassenkameraden wird nicht zurückgeschreckt. Drei erlebten das Kriegsende nicht mehr. Einer konnte 1937 ohne seine Familie in die USA emigrieren.
Das Gemeinschaftsgefühl – eine mörderische Täuschung
Doch schon bald zeigen sich erste Risse in der „heilen“ Klassengemeinschaft, werden – zunächst noch als Scherz – antisemitische Sprüche laut. Die rassistischen Vorurteile werden überlagert von politischen Einstellungen. Die einen neigen dem Kommunismus zu und feiern die Sowjets, als diese 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt das Grenzstädtchen besetzen. Die Katholiken gehen in den Widerstand und gründen die Untergrundarmee „Weiße Adler“ und einige stimmen nahtlos mit den neuen deutschen Besatzern und deren Judenhass überein.
Regisseurin Irina Miller fordert das Letzte von ihrem Bühnenensemble (Elena Kristin Boecken, Pia Stutzenstein, Jenny Tilesi Silke, Pascal Scurk, Oliver Wlodarz, Georgios Markou, Yannick Hehlgans, Janosch Roloff, Eric W. Carter, Burak Temir), das sich eigens hierfür zusammengefunden hat. Und das liefert vollen Einsatz, man sieht’s an den Schweißflecken. Ihre Inszenierung fordert auch das Publikum. Es fällt schwer, die notwendige Darstellung von Verrat und männlicher Gewalt auszuhalten. Dabei beschränkt sie sich selbst bei den Vergewaltigungsszenen auf heftige Gestik.
Regisseurin Irina Millers eindringliche Bilder
Miller entwickelt intensive und eindrückliche Bilder. Etwa wenn die Täter ihre überlebenden Opfer beschwichtigen: „Was geschehen ist, ist geschehen. Wir sind eine Klasse“ – dann stehen die bleichen Toten zwischen ihnen. Angeheizt wird die Stimmung durch stampfende Märsche. Dazwischen mischen sich wilde Tänze zu polnischer Volksmusik und fröhlichen und klagenden Klezmergesänge (Max Friedmann: Geige, Oliver Wlodarz: Akkordeon).
Ein Jude, der der Verfolgung dank der Hilfe einer Mitschülerin entgehen konnte, klagt nach dem Krieg zwei ehemalige Mitschüler des Mordes an, erzwingt ihre Geständnisse aber mit Folter. Diese werden deshalb nicht akzeptiert. Nach Zeugenaussagen wird einer zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, kommt aber nach acht Jahren frei. Der andere ist inzwischen Priester geworden und rettet sich in die katholische Kirche. Der Ankläger muss nach Israel auswandern.
In der Realität war das Verbrechen damit erledigt, es kam erst wieder um die Jahrtausendwende auf die Tagesordnung (siehe Rheinerlei vom 6. Mai 2021).
Die Kölner Aufführung findet im Rahmen des Erinnerungsjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ statt. Die Akteure kommen vom Nö-Theater und vom Ensemble Integral. Es gelten die aktuellen Corona-Regeln.
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Bildzeilen
Foto 1: Klaudius Dziuk – Zum Beginn des Schuljahres wird ein Klassenfoto gemacht: Es herscht eitel Freundschaft. Hintere Reihe: Janosch Roloff, Oliver Wlodarz, Burak Temir, Eric. W. Carter, Yannick Hehlgans; vordere Reihe: Georgios Markou, Elena Kristin Boecken, Pia Stutzenstein, Jenny Tilesi Silke, Pascal Scurk (jeweils v.r).
Foto 2: Klaudius Dziuk – Sie verstehen sich als stolze Polen – und sind sich mit den deutschen Besatzern einig im Hass auf die jüdischen Nachbarn (v.r.: Yannick Hehlgans, Janosch Roloff, Oliver Wlodarz).
Foto 3: Klaudius Dziuk – Das Trio schreckt auch vor der Vergewaltigung der Mitschülerin zurück (v.r.: Oliver Wlodarz, Janosch Roloff, Elena Kristin Boecken, Yannick Hehlgans).
Termine:
12. September 2021:
18:00 Uhr
16. September 2021:
19:00 Uhr
17. September 2021:
19:00 Uhr
18. September 2021:
19:00 Uhr
19. September 2021:
18:00 Uhr
Preis:
Eintritt: 18,00 €
Ermäßigt: 12,00 €
Kontaktdaten und Anfahrtsbeschreibung:
Ensemble Integral
Adresse: Aula Gymnasium Kreuzgasse, Vogelsanger Straße 1, 50672 Köln
Webseite: https://ensembleintegral.de/produktionen/unsere-klasse/