Geschichten, die man so nicht sieht
1955 schloss Deutschland mit Italien den ersten Vertrag zur Anwerbung von Arbeitskräften. Weitere Länder folgten: 1964 wurde in Köln der einmillionste „Gastarbeiter“ begrüßt. Er kam aus Portugal. Immer wieder waren die Arbeitsmigranten Thema in der Öffentlichkeit – mal positiv, mal negativ. Doch wie sich selber wahrnahmen interessierte kaum jemanden. Das holt jetzt das Museum Ludwig in der beeindruckenden Ausstellung „Vor Ort: Fotogeschichte zur Migration“ mit rund 300 Fotos nach.
„Wir haben eine große photographische Sammlung“, erklärt Hausherr Yilmaz Dziewior. „Darunter auch viele Aufnahmen von Siedlungsbauten der GAG, in denen diese Menschen lebten und leben.“ Doch nur in den seltensten Fällen seien darauf die Menschen zu sehen. Das war Ela Kacel aufgefallen, mit Barbara Engelbach Kuratorin dieser Ausstellung. Wer also waren diese Menschen? Die Idee zu dieser Ausstellung war geboren.
Die Ausstellung schließt Erinnerungslücken
Beim Schließen dieser Erinnerungslücke half die enge Zusammenarbeit mit domid, dem Kölner „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“, das demnächst endlich sein eigenes Museum erhalten soll. Es stellte zahlreiche private Fotoalben sowie Videofilme zur Verfügung, die ihm von Arbeitsmigranten etwa aus der Türkei, Griechenland oder Spanien überlassen wurden. So „sprechen“ diese selber, sind Subjekt der Erzählung, nicht Objekt.
Es sind fröhliche Fotos, wie sie in jedem Familienalbum nicht nur dieser dieser Zeit kleben könnten: Ausflüge in die Nähe und Ferne, beim Baden, Feiern von Hochzeiten, Geburtstagen und Geburten, Festessen, die neue Wohnung, das neue Auto, das erste Fahrrad, Kinder, Freundesgruppen, Karneval. Mal der schnelle Schnappschuss, mal in strenger Pose. Stolz ist zu erkennen – man ist in der Fremde angekommen. Das gilt auch für die Aufnahmen vom Arbeitsplatz.
Anfassen ausdrücklich erwünscht
Die Ausstellungsmacher bieten ein besucherfreundliches Angebot: Diese Fotos stehen auf kleinen Leisten, man kann sie in die Hand nehmen, umdrehen und auf der Rückseite lesen, was der Fotograf oder die Fotografierten zu diesem Foto sagen.
Das ist besonders aufrührend, wenn es Fotos aus den ersten Jahren nach der Ankunft in Deutschland sind. Wenn Männer und Frauen noch ohne ihre Familien – die durften erst später nachgeholt werden – hier leben mussten, in Arbeiterbaracken, die den Krieg überlebt hatten, in heruntergekommenen Abrisshäusern, in Wohnheimen mit kleinen Zimmern, nicht selten zwei Doppelstockbetten auf engstem Raum, spartanisch ausgerüstete Badezimmer.
Und während die „schönen“ Fotos gerne nach Hause geschickt wurden, hielt man diese zurück: „Ich war geschockt, als ich die Unterkunft sah“, erinnert sich ein Fordarbeiter. Dass die ausgestellten offiziellen Werkszeitschriften nur die guten Seiten der Unterbringung und des Miteinanders zeigten, liegt auf der Hand.
Streiks für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen
Bald engagierten sich die Neubürger auch politisch, streikten etwa für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Oft ohne Unterstützung der deutschen Kollegen, wie 1973, als türkischen Fordarbeitern die Kündigung drohte, weil sie – aufgrund der langen Reisezeit – die Werksferien überschritten hatten.
Sie nutzten auch die hiesige Demonstrationsfreiheit und protestierten in Deutschland gegen Unrecht in ihren Heimatländern, etwa die Franco-Diktatur in Spanien. Solche Aktionen waren dann auch Thema für deutsche Profis wie Ulrich Tillmann. Aber auch einfühlsame Fotos von Chargesheimer vom Leben am Eigelstein oder von Candida Höfer sind zu sehen.
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Foto 1: Jürgen Schön – Blick in die Ausstellung.
Foto 2: Ali Kanatlı/DOMiD-Archiv, Köln – Ali Kanatlı (vorne rechts) mit Freunden am Aachener Weiher, Köln, 1965. „Sicherlich möchte man schöne Orte fotografieren, wenn ein Foto aufgenommen wird. Man wählt schöne Orte aus, um eine gute Aufnahme zu haben und gut auszusehen.“ (Ali Kanatlı)
Foto 3: Alpin Harrenkamp – Die Familien Türköz und Üçgüler 1963 in der ersten gemeinsamen Wohnung im Kölner Agnesviertel. „Samstags wurde oft gekocht. Unsere Zimmer waren ganz kleine Räume. Es gab nur eine Küche, die man geteilt hat, und das war eine Wohnküche. Jeder hat etwas gekocht, dann hat man sich zusammengesetzt und gegessen.“ (Fikret Üçgüler)
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Zeiten:
bis zum 3. Oktober 2021
Preise:
Eintritt:
Erwachsene: 11,00 €
Ermäßigt: 7,50 €
Online-Ticket, inkl. KVB-Ticket:
Normal: 13,90 € zzgl. 4,40 € Versand
Ermäßigt: 10,00 € zzgl. 4,40 € Versand
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Museum Ludwig, Köln
Adresse: Heinrich-Böll-Platz, 50667 Köln
Telefon:
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Webseite: www.museum-ludwig.de/de/ausstellungen/vor-ort-fotogeschichten-zur-migration
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Linie 5: Rathaus